Aufnahmemappe für Sprachkunst an der Universität Wien


1

Der Kameramann gab ihr ein Zeichen und Carola strich die Spitze des weißen Kleides glatt und schaute zu Boden bis ihre Augen sich mit genug Wasser gefüllt hatten. Hierfür bediente sie sich der Vorahnung, der sie sonst die Hand vor den schreienden Mund presste. Carola ließ sie schreien.

Das rote Licht blitzte auf. Carola schrie und sang und sprach und sah auf die Statisten und auf die anderen Schauspieler. Sie versuchte ihrem Lied ganz genau zuzuhören, in der Hoffnung, dass ihr es die anderen gleich tun würden. Das Barbarenlied. Niemand hatte ihr gesagt, dass sie weinen müsste, wenn sie das Lied vom Nein und Ja sang, aber sie mochte ihre glasigen Augen. Übernetzte sie sie mit Tränen, konnten die anderen nicht so leicht aus ihnen Lesen. Sie erkannten vielleicht Carolas Vorahnung und konnten doch nicht sagen, was sie vermutete.

Die Melodie wurde heller. Polly sprach von dem Mann, der nicht so war, wie er sein sollte und in den sie sich trotzdem und genau deshalb verliebte. Und da Carola Polly war, ließ sie ihre Tränen glitzern, sodass sie Spiegel der Glückseligkeit waren. Polly erlag dem Mann. Sie legte sich einfach hin und überließ sich ganz ihm. Carola wollte sich auch jemandem überlassen. Nur wem. Ihr Mann hatte Angst und die hatte er zu Recht und die machte aus seinen schützenden Händen zitternde Krallen und er konnte Carola nicht mehr so berühren, wie der Mann Polly berührte. Ihnen blieb nur das Gespräch als Verbindung. Carola musste aufrecht sitzen und niemand gab ihr Stütze, wenn die Vorahnung sie in die Knie zwang.

Der Winter hatte die Ahnung in kalten Böen nach Berlin getragen und Carolas Mann wurden erfasst und wenig später auch Carola und sie waren trotzdem dem nachgegangen, das sie begonnen hatten. Carola ging jeden Morgen in das Studio, obwohl ihr nachts im Bett Bilder ihrer kahlgeschorenen, geschändeten Kollegen den Atem nahmen. Sie weckte dann ihren Mann nicht, froh wenn er schlief, froh, dass sein Atem gleichmäßig war. Auf seinem von Gedanken zerfurchten Gesicht waren dann nur manche der Falten, die untertags die Realität in seine Bubenhaut gezeichnet hatte, zu erkennen. Ihre Falten wurden jeden Morgen mit Puder verputzt und sie sah sich in den Spiegeln an den Wänden der Ankleideräume. Wenn die anderen lachten, lachte sie auch, denn trotz des Rauchens weiß strahlende Zähne und die Helligkeit ihrer Mädchenstimme waren alles, was sie noch zu bieten hatte. Alles was ihr blieb, wenn die letzten Zeilen des Liedes und mit ihnen Carolas müde Kraft im Saal verloren gingen und das rote Licht erlosch.

2

Eine törichte Beziehung ist die zwischen mir und der Liebe. Es ist ein gegenseitiges Verzehren. Ich verzehre mich nach ihr und ist sie da, so verzehrt sie mich. Als er kam, nahm er mich und trug mich mit sich fort in seine Welt, deren Gesetzmäßigkeiten mir noch heute fremd sind und doch vertrauter als mein eigenes Kind. Sein Kind, dem ich von ihm erzähle und das mich nicht versteht. Seine Worte konnten nicht verstanden werden, er sprach sie nicht aus, um verstanden zu werden.

Er sprach Dinge aus, um ihnen an Größe zu nehmen. Er litt unter seinen Gedanken und das Leid spie er in kalten Worten aus und ich wollte ihn und wollte sein Leid aus dem ich mir ein Kleid spann, ohne es zu verstehen. Er verlangte mir alles ab und hasste meine Müdigkeit, gegen die ich nicht ankam.

Oft sprach er wie in Trance. Schrie plötzlich auf. Beschuldigte die anderen: „ Ihr seid es doch! Ihr, die vergesst, euch zu fragen wozu. Wozu? Ihr. Habt ihr so Angst vor dem Schlag – die Einsicht hat eine metallene Faust!“ Die Angst, die ich nicht kannte – er holte sie aus meinen Tiefen hervor. Abends im Bett, aneinander gepresst im Kokon unserer Leintücher, spürte ich sie. Sie war schwarz und verbrannte mein Gedanken – Koks für ihr loderndes Feuer – und ich wusste, er würde mir raten ihr einen Namen zu geben. Sie zu erkennen. Ich sträubte mich. Ich konnte mich nicht wie er nackt von der Wirklichkeit verwunden lassen. Ich warf mein Schild nicht ab, da ich nicht verstand, was ich daraus gewinnen würde. Zu was würde mir der Mut verhelfen?

Ich sah es ihm an. Er kannte die Wirklichkeit und sie war ihm doch nicht vertraut genug, dass er sich aus dem Zwang gewunden hätte und ihr gefolgt wäre. Seine Gedanken gehörten ganz ihr, doch war sie zu unergründlich und er wagte nicht, sich in ihre Fluten zu werfen. Er blieb Bruchstück der Gesellschaft – so wie ich – und wir weinten oft Tränen aus Stahl. Sie waren spitz und zerschlissen unsere Handfläche bis wir nichts mehr greifen konnten und jede Tätigkeit, die anderen das verliehen, was sie dann als Zufriedenheit benannten,  blieb uns verwehrt. Er zog mich mit sich ohne, dass ich verstand. Er ergriff mein Herz und warf es zu dem seinigen in die Tiefen und vergaß meinen Verstand, sodass ich nie zur Einsicht kam. Ich kämpfte den unerbittlichen Kampf gegen die unbenannten Gefühle, die mich in den Wahnsinn trieben. Er hatte sie ausgelöst und ich war zu schwach gewesen, ihnen nachzugehen. Er beherrschte die seinigen und die meinigen und mein Herz war ihnen unterworfen, so wie es ihm unterworfen war.

Arm in Arm schleppten wir uns gekrümmt in die Hölle hinab. Ich war blind – seine Küsse vernetzten die klaren Bilder meiner Augen. Weiche Unsicherheit. Der Weg zurück ist Illusion. Sie kann nur zur Möglichkeit werden, wenn ich mich von ihm, der alles in seiner Wirklichkeit, wenn nicht zu wissen, zu erahnen schien, bereit wäre zu lösen. Rettung. Ich verzichte auf sie. Sie gibt mir Normalität, die ich nicht ertrage. Ich verlasse ihn nicht, ich verließe mein Herz, um wieder zu fühlen, was mein Verstand zu fassen weiß. Ich betrinke mich und entledige mich des dreckigen Kots meines Verstands.

3

Draußen lag das Meer sanft in weichen Wellen und der Nachthimmel deckte es zu. Er stellte sein Glas neben sie auf die Reling und alles, was er zu besitzen verlangte, stand vor ihm auf wenigen Zentimetern und darunter die Flut. Er wusste, sie würde nicht fallen. Sie lachten beide wie Kinder und sein Glas wurde vom Wind von der Reling gerissen und zersprang noch bevor es in die Fluten tauchte.

4

Sie waren nach Barcelona gekommen, um das zu tun, zu dem sie sich in Wien nicht fähig gefühlt hatten. Er um zu schreiben, sie um zu malen. Oder umgekehrt. Im Endeffekt verblassten jene Beweggründe im Dunst anderer Utopien und Träume. Sie sprachen manchmal darüber. Er seufzte und sie schmiedete Pläne. Ein anderes Mal dann ein Rollentausch. Er fragte den Kellner nach einem Stift und notierte und sie lehnte seufzend an der Fensterscheibe.

Das Haus, in dem sie sie das Nadelöhr bezogen hatten, war entweder das niedrigste oder das höchste in der Straße. Sie kann heuten nur sagen, dass es besonders war und sie hatten zwei Balkone. Ein Balkon war zu der Straße hin, einer in den Hinterhof hinein. Der zur Straße hin hieß der Wäscheständer. Er war so klein, nicht einmal sie konnte auf ihm sitzen. Dabei war sie zierlich wie ein Schuljunge und er nannte sie chico. Auf dem anderen saßen sie abends und er meinte die Sagrada sehe aus wie aus einem Aquarell seiner Mutter. Dann protestierte sie. Die Sagrada sehe aus wie aus buntem Milchschaum. Damit er nicht an seine Mutter dachte. Manchmal schaute sie auf die immer gleichen Häuserdächer und einmal sagte er, die Antennen sähen aus wie die kratzenden Finger eines Skeletts. Barcelona sei überhaupt wie Skelette, die mit bunten Tüchern tanzten. Ihr fielen zu Barcelona bloß Worte wie schmuddelig oder belebt ein, also zitierte sie immer ihn, wenn sie nach der Stadt gefragt wurde.

Auf dem Weg zum Kino machte sie meist vor der Drogerie halt und schaute die Frau an, die in einem goldenen Bikini für den Fotografen Creme wie Kriegsbemalung mit zwei Fingern über ihre braunen Wangen strich. Sie schaute auf ihren Busen und die Hüfte und dann wieder zu dem Busen. Irgendwann zog er sie dann immer weg, hielt mit der einen Hand ihre Augen zu und mit der anderen umschloss er sie ganz. Er schimpfte sie. Für ihn war sie chico ohne Goldbikini und Kriegsbemalung und er sah darin nichts Schlechtes und doch sagte er immer, dass er sie in die Gletscherspalte stecken würde, wenn sie nicht endlich mehr aß. Und sie war traurig aber lachte und meinte, sie würde ihm dann den ganzen Tag durch das Fenster zusehen. Die Gletscherspalte war der Spalt zwischen ihrem Haus und dem nebenan.

Eines Abends wollte sie nicht wie immer ins Kino. Sie wollte mit ihm ins Kino, aber nicht so wie sonst. Sie lief die Straße auf und ab und begegnete dutzende Male dem Jungen, der jeden Tag für seine kranke Mutter zum Supermarkt ging, denn er lief jeden Tag die Straße auf und ab und man sagte, für seine Mutter hätte schon vor ewigen Zeiten die letzte Stunde geschlagen. Das heiß wenig. Ewige Zeit konnte ein paar schlafende Wochen und viele kurze Jahre sein. Im Grunde hieß es bloß, dass der Junge wohl immer dieselbe Einkaufsliste zwischen seine dünnen Finger geklemmt hatte. Manchmal weinte er. An diesem Tag weinte er und sie weinte auch und trat ein.

Sie betrat den Friseursalon von Sofia. Sofia schimpfte, weil der Wind Knoten in ihr Haar gemacht hatte und sie meinte, Sofia könne sie wegschneiden. Sie verließ den Salon und hatte keine Knoten mehr und kaum mehr Haare. Sie bat ihn, sie abzuholen. Er durfte nicht hinaufkommen. Er solle vor dem Haus warten und sie zog ein weißes Kleid an, das bis zum Boden reichte und lief die Treppe herab, als würde sie zum ersten Mal mit einem Jungen ausgehen.

Wenn sie sich richtig erinnert, fielen sie sich in die Arme oder küssten sich. Sie lachten und verloren ein wenig das Gleichgewicht. Und er ging einen Schritt rückwärts, um es zurückzugewinnen und das Auto kam. Vielleicht war es er, der zu weit auf der Straße stand. Vielleicht war es der Autofahrer, der auf den Gehsteig fuhr. Das weiß sie nicht mehr.

5

Herr Franz wünscht. Herr Franz wünscht sich eine Frau oder ein Achterl Wein. Ein Achterl guten Wein. Den bekommt man nicht überall. Trink ma noch ein Achterl Wein? Setz ma uns hin, trink ma noch ein Achterl.

Herr Franz will. Herr Franz will noch einmal nach Santorin. Eine Insel in einer Insel. So muss das Paradies ausschauen. Lieb waren die Männer des Südens. Hinein ins Steinhaus. Blau mit weiß. Hinaus. Tränen.

Herr Franz erzählt. Man ging zum Stierkampf. Herr Franz liebt Tiere, seine Frau Kostüme. Also gingen sie und das Mädel ist unten bei entfernten Verwandten geblieben. Und der Torero zerbrach den Stier. Olé. Olé hat der Herr Franz gerufen und die Arme gen Himmel gestreckt. Alle haben sie das getan. Doch der Herr Franz fands grausam. Er fands nicht traurig, nicht ding. Es war unheimlich grausam.

Herr Franz gibt Rat. Hast jemanden, den du lieb hast? Wenn du das hast, dann gibt’s zwei Dinge. Fahr nach Santorin und bau ein Haus. Nie hat er ein Haus bauen können. Zuerst kam der Krieg, dann die Armut, dann das Geld, aber da auch die Pension und die Krankheit.

Manchmal möcht er aufstehen. Stopp Herr Franz. Sitzen bleiben. Sitzen bleib. Sitzen blei. Sitzen bl. Sitz.

Herr Franz kennt. Herr Franz kennt die Pflegerin (Etage 1), den Neger im weißen Kittel. Herr Franz kennt ganz Wien. Brauchst was? Na  geh, schau net gar so ding. Brauchst was? Ich kenn doch ganz Wien.

Herr Franz fragt. Wie ist das mit den Eltern? Wir treffen uns ja immer im Café und da schauns halt doch. Tuscheln tuns. Ich mein, ein siebzehn jähriges Madl und ein Sechsundachzigjähriger. Solls ja geben. Sonst als Großvater und Enkel eben. Ein Fehler. Glasige Augen.

Herr Franz ist traurig. Ist traurig weil ist allein. Jetzt bist da, wir sitzen, wir plauschen, aber net allzu lang, a bissal, dann sag ma Adieu. Dann gehst. Wozu Gymnastik. Singen kann er nicht. Er lacht. Theater, Tanz. Na wozu denn? Er will ja nur ein bissi plauschen. Fürs Kino reichen doch die Augen nicht.

Herr Franz lädt ein. Herr Franz lädt ein, auch wenns nix zu Zahlen gibt. Wenn was dazwischen kommt, dann anrufen, wurscht wo, alle kennens ihn. Sonst auf bald. Er reicht die schlaffe Hand. Speichel. Des hat mich unheimlich gfreut. Herr Franz ist stolz. Ein Fräulein nur für ihn. Wenn ich geh, dann immer nachhaus, nie zu jemand anderem. Wie könnt ich mich das trauen? Den Herrn Franz kennt ganz Wien. Er wüssts als Erster.

6

 „An was denken Sie, Genosse?“ Sein polnischer Akzent war unüberhörbar. Seine lieben Augen fokussierten mich ehrlich interessiert. „Ich denke an das Flehen in Augen, die den Tod sehen.“ „Sie waren noch sehr jung damals, nicht?“ Ich nickte müde. „Und doch“, ich erkannte mein verzerrtes Gesicht im Spiegel hinter der Bar, „zu alt.“ „Wofür?“ „Sich wie ein blinder Hund an der Leine ziehen zu lassen.“ „Nicht, dass ich ihre Gedanken verstehe, aber ich kenne diesen Blick.“ Er verzog sein Gesicht wissend zu einer albernen Grimasse. „Hören sie zu. Beenden sie, sich Schuld zuzuschreiben. Sie armer Teufel haben viel zu früh eine Waffe in die Kinderhände bekommen. Wohin hätten sie sie denn richten sollen, wenn nicht auf fremde Bubengesichter?“ „Manchmal wünschte ich, auf meine eigene Schläfe.“ „Bei Gott, die Falschen trifft die Einsicht.“ „Jeden trifft sie früher oder später. Glücklich sind die, die sie erst in den letzten Atemzügen erfahren. Ihr Gewissen schläft einen friedlichen Schlaf und das Leben ist angenehm.“ Laut glucksend leerte er sein Glas. „Wissen sie für mich gilt, Vergangenheit ist vergangen.“ Der Satz wirkte wie eine bewehrte Floskel, doch der Mann schien zufrieden, leckte sich erleichtert über die klebrige Lippe.



7

Er wurde langsamer, als er sie liegen sah. Da seien sie dagegen gelaufen. Er fiel auf die Knie und legte seine ausgestreckten Arme auf die toten Körper. Ihre Stirnen waren aufgeschlagen, in zwei Hälften geteilt. Heraus quoll Blut und die Sonne beschien das freigelegte Gehirn. Die Augen traten aus dem Schädel und gafften in die Zuschauermenge. Der Unterkiefer hing lose. Durch den geöffneten Mund sah man tief in den Rachen aus dem der Hall der letzten Rufe zu klingen schien. Der graue Asphalt war nicht bloß durch das rotschwarze Blut gefärbt, sondern auch mit weißer und gelber Masse bedeckt. Die Leute gingen und die Fliegen kamen. Sie setzte sich auf die Pupillen der austretenden Augen und die Kanten des aufgebrochenen Schädels und es kam die Polizei. Und der Arzt traf ein und hob ihre Köpfe und ließ sie dumpf auf den Asphalt fallen. Man hob sie an und verstaute sie und Frauen, die aus dem Transporter stiegen, wischten und kratzten Weißes, Gelbes und Rotes vom grauen Asphalt. Und man wollte ihn auch verpacken und mitnehmen, doch er wehrte sich und blieb liegen, den Kopf in den Händen zum Boden gedreht.

8

Jack hat zwar große Augen, aber sein Kopf ist klein

Man teilte mir die Rolle zu, ich nahm an

Rote Schrift am Straßenrand, ich trat sofort ein

Sie sah mich und sagte, sie mache mich zum Mann

Sie hatte Pelz um sich gelegt, aber keine Scham

Ihr Name war Nathalie, Tränen schluckte sie

Mit Gin, stellte keine Fragen, hörte doch zu

Sie verkehrte nur in den ausgewählten Kreis

Edle Anzüge, die sich durch das Leben plagten

Eines Nachts hing ein kalter Nacken am Haken

Nathalie sagte bloß, gut, dass sie nichts weiß

Natalie, die Blume, die nur im Dunklen blüht

Sie schenkte einem alles und war doch zu bezahlen

Man hörte nur den dumpfen Schlag ihres Falles

einmal sagte sie müde, dass sie nun das Wirkliche verstand

Ich sagte, sie solle Schlechtem keine Aufmerksamkeit schenken

Jack, Wenn man verlernt zu wünschen, beginnt man zu denken

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