Erzählen aus der Sicht des personalen Er-Erzählers


Spaghetti für zwei – Marie Hummer – 23.9.12

Marcel rührte gelangweilt seine Suppe um. Es war Mittwoch, ein verregneter Mittwoch, an dem man von den vergangenen Schultagen müde und schlapp war, einem jedoch klar war, dass man noch anstrengende Schultage vor sich hatte, bevor man endlich das Wochenende genießen konnte. Marcel wurde aus seinen Gedanken gerissen, als sich ein Junge, ein, zwei Jahre jünger als er zaghaft auf dem Stuhl gegenüber von Marcel niederließ und ihn mit zusammengekniffenen Augen musterte. Marcel schaute auf und direkt in die großen verwirrten Augen, mit denen ihn der bleiche Junge ansah. Vielleicht wollte er Marcel etwas erzählen, vielleicht suchte sein Gegenüber einfach jemanden, der ihm zuhörte und glaubte diesen Marcel gefunden zu haben. Doch statt etwas zu sagen, tauchte der Bub entschlossen seinen Löffel, den er die ganze Zeit fest mit seiner Hand umklammert hatte, in die Suppe. Marcel hätte ihn nun anfauchen können, was er sich einbilde, einfach Marcels Suppe mitzuessen, dass er sofort damit aufhören solle und dass Marcel sonst handgreiflich werden müsse. Doch er tat gar nichts, löffelte seine Suppe weiter und der Junge tat es ihm gleich. Der Bub sagte nichts und Marcel sagte auch nichts.

Die  Suppe war nach wenigen Minuten aufgegessen. Marcel lehnte sich zufrieden zurück und schaute sich in dem Restaurant um: weiße Wände, viele dicht aneinander gereihte Tische und in der hinteren Ecke eine massive Kirschholz-Theke. Plötzlich fiel Marcels Blick auf den Nebentisch. Auf diesem stand eine Porzellanschüssel, bis zum Rand gefüllt mit Gemüsesuppe. Da verstand er was passiert war. Der Junge hatte einfach die Tische verwechselt und dachte, dass Marcel sich an seinen Tisch gesetzt hatte. Ihm stieg der Geruch duftender Spaghetti in die Nase. Der ältere Mann am Nebentisch hatte sich diese bestellt. Marcel stand auf, holte solch köstliche  Spaghetti und ließ den Jungen einfach sitzen. Er beschloss zu warten, bis dieser selbst auf seinen Irrtum kommen würde. Marcel stellte die Spaghetti in die Mitte des Tisches. Er hatte dem Jungen auch eine Gabel mitgebracht. Vielleicht hatte dieser sein ganzes mitgenommenes Geld für die Suppe ausgegeben und konnte sich gar nichts mehr kaufen. Er wollte den armen Jungen doch nicht hungern lassen. Während er aß, beobachtete Marcel sein Gegenüber. Dessen Blick war eine Mischung aus Angst, Misstrauen und Verlegenheit.

Die Portion war reichlich und die Beiden hörten nach der Hälfte auf zu essen. Langsam wunderte es Marcel, dass der Bub noch immer nichts von seinem Irrtum bemerkt hatte. Marcel schaute ihn an, schaute und wartete, ob dieser seine kalte Gemüsesuppe am Nebentisch bemerken würde. Da viel der Blick des Jungen auf die Suppe und seine Augen vergrößerten sich. Dann sah er Marcel nervös an. „ Äh…“, stammelte der Junge und wurde rot. „Entschuldigen Sie bitte. Ich…“ Ihm standen kleine Schweißtröpfchen auf der Stirn und da konnte sich Marcel nicht mehr halten und prustete los und lachte und lachte. Und dann lachte der Junge mit. Und sie lachten Tränen, lachten bis sie keine Luft mehr bekamen und sie der Bauch schmerzte. Als er sich wieder etwas beruhigt hatte, stand Marcel auf und klopfte dem Buben freundschaftlich auf die Schulter. „Ich heiße Marcel“, sagte er. „Ich esse jeden Tag hier. Sehe ich dich morgen wieder? Um die gleiche Zeit?“ Der Junge strahlte ihn an. „ In Ordnung!“, sagte er. „Aber morgen zahle ich die Spaghetti.“

 

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