Reisebericht eines jungen Mannes 5 - Polen 1935 (2015)


Polen 1935

Das Lokal war gut besucht. In den leicht separierten Nischen hingen Frauen an den Hälsen von Männern, an den Wänden geschmacklose Fotografien an rostigen Nägeln. Eine melancholische Melodie erfüllte den Raum. Wie eine zähe Flüssigkeit klebte sie an den Menschen. Gläser wurden gegen allen Widerstand emporgehoben. Die Ziehharmonika verstummte. Der Geiger legte den Bogen aus der Hand. Eine schwere Last fiel von ihm. Er seufzte. Manche klatschten. In manchen Augen erkannte man Schwermut, das Vermissen des vibrierenden Gefühls von Verstanden Werdens, das für kurze Zeit durch die Melodie aufgekeimt war. In manchem Auge glänzte eine Träne. Ich bahnte mir einen Weg an den Tischen vorbei. Man hörte wieder aufgewachte Stimmen, die Klänge waren vergessen. Sie hatten die Erinnerungen und Emotionen geweckt, die man schon in weit abseits liegenden Winkel der Seele gedacht hatte. Ich steifte an Armen und Beinen, die über Sessellehnen hingen und genoss jede flüchtige Berührung wie eine Geste der Zuneigung. Lange war ich nicht mehr unter so vielen Menschen gewesen, hatte Zigarettenrauch und Moschus aus meiner Geruchswelt entbehrt.

Der Raum hinter der Bar war durch eine schwere Tür abgetrennt und elegant möbliert und verschiedenste Damendüfte und Rasierwässer hingen wie dünne Nebelschwanden unter der prunkvollen Decke des Salons. Kaum war die Tür hinter mir ins Schloss gefallen, fand ich mich in den Armen einer Dame.

Tiff sprang von der Sofalehne auf, mit der sie anscheinend vorliebgenommen hatte, um dem fein herausgeputzten Mann möglichst nahe zu sein. Er saß auf dem Sofa und war in ein angeregtes Gespräch verwickelt.

„Jake, ein Glück, dass du da bist!“

„Tiff, mir fehlen die Worte mein Entsetzen und meine Bitterness auszudrücken, als ich von der Zugverspätung erfuhr.“ Ich visualisierte meine Bestürzung,durch einen ungläubig schüttelnden Kopf und gequälte Gesichtszüge. Tiff lachte kurz auf. Ich solle ihr nichts vormachen, hang ich ja doch lieber auf einem Bahnhof fest als in einer Kirche.

An der Bar sitzend, überblickten wir die noble Szene. Tiff blies dicke Rauchschwaden über die Köpfe der Menge. „Ich bin nicht verletzt, Jake, wusste im Grunde, dass du nicht zum Trauzeugen taugst. Mir fehlten nur langsam die Worte, deine Abwesenheit zu erläutern, insbesondere auf Polnisch.“

Tiff wiegte sanft ihre Hüften zu der Jazz Musik. Ich hatte das Gefühl, eine Blüte in meinen Händen zu halten. Ich wurde abgelöst. Ihr Ehemann hatte sich schwerfällig aus der vollbesetzten Sofaecke gelöst und fragte mich gerade so, ihm Tiff zu überlassen, als wäre er noch mitten in seinen Geschäften, hätte sich gedanklich noch nicht aus der Gesellschaft gelöst, die unverändert in der Ecke saß und starr zu uns herüberblickte. Sie wirkten wie Eindringlinge, eindeutig separiert von der ausgelassenen Hochzeitsgesellschaft. Tiff quietschte vor Vergnügen. Der Alkohol war ihr zu Kopf gestiegen. Die Bekannten ihres Mannes interessierten sie nicht. Ihr langes Haar flog wie aufgewirbelter Sommerregen um ihre Schultern. Man verfolgte die Bewegung der exotisch schönen Gestalt.

Der Kellner stellte abwesend das Glas auf die Theke und kalte, klare Flüssigkeit rann über den Ärmel meines abgelegten Armes. Ich zog, ohne etwas zu sagen, mein Portemonnaie aus der Jackentasche, gab sogar Trinkgeld. Ich lauschte dem Gespräch der beiden jungen Herren neben mir. Sie diskutierten über die Zukunft überdachter Automobile. Sie nippten an ihren Martinis. Sie taten dies wie richte Schuljungen, ihre Gestik war die einer tratschenden Frau.

Ich verlief mich, sie beobachtend, in meinen Gedanken. Sie waren noch jung hatte von wenig Ahnung, dachte ich überheblich. Sie hatten noch nie eine Waffe in der zitternden Hand gehalten. Nie hatten sie, diese auf flehende Augen richtend, ihre Pflicht erfüllt, wenn sich der Verstand sträubte. Gott, sich darauf etwas einzubilden, war schäbig.

Ein Mann ließ sich auf den Hocker neben mich fallen. Er hob schwungvoll sein Glas. Er hatte Schweißflecken und keuchte vom Tanz. Er prostete mir zu. Die Gläser klirrten, erneut schwappte Flüssigkeit über. „An was denken Sie, Genosse?“ Sein polnischer Akzent war unüberhörbar. Seine lieben Augen fokussierten mich ehrlich interessiert. „Ich denke an das kindliche Flehen in Augen, die den Tod sehen.“ „Sie waren noch sehr jung damals, nicht?“ Ich nickte müde. „Und doch“, ich erkannte mein verzerrtes Gesicht im Spiegel hinter der Bar, „zu alt.“

„Wofür?“

„Sich wie ein blinder Hund an der Leine ziehen zu lassen.“

„Nicht, dass ich ihre Gedanken verstehe. Ich kann ihnen nicht folgen, aber ich kenne diesen Blick.“ Er verzog sein Gesicht wissend zu einer albernen Grimasse. „Hören sie zu. Beenden sie, sich Schuld zuzuschreiben. Sie armer Teufel haben viel zu früh eine Waffe in die Kinderhände bekommen. Wohin hätten sie sie denn richten sollen, wenn nicht auf fremde Bubengesichter?“

„Manchmal wünschte ich, auf meine eigene Schläfe.“

„Bei Gott, die Falschen trifft die Einsicht.“

„Jeden trifft sie früher oder später. Glücklich sind die, die sie erst in den letzten Atemzügen erfahren. Ihr Gewissen schläft einen friedlichen Schlaf und das Leben ist angenehm.“ Laut glucksend leerte er sein Glas. „Wissen sie für mich gilt, Vergangenheit ist vergangen.“ Der Satz wirkte wie eine bewehrte Floskel, doch der Mann schien zufrieden, leckte sich erleichtert über die klebrige Lippe. Er hatte sich erfolgreich einer Destabilisierung seiner Gedankenwelt entzogen. „Das, was für mich zählt, ist der Fortschritt. Alles ist in Bewegung. Von Tag zu Tag liegt mehr Geld auf den Konten, sitzt ein zufriedener Mann mehr in einem Kino, ist erregt mithilfe neuester Errungenschaften, betört von der Technik.“

Eine Dame griff nach seinem Oberarm und zog ihn auf die Tanzfläche. Er drehte sich ein letztes Mal zu mir um. Ich solle über seine Worte nachdenken. Ich schnaubte. Als würde ich erst Zeit brauchen, um seine hohen Gedanken zu verinnerlichen. Und ich dachte an meinen letzten Kinobesuch, an die Augen der Zuschauer. Die Spannung und Genugtuung mit denen das Ausgemetzel antiker Figuren auf der schäbigen Leinwand verfolgt wurde. Und ich erkannte die blinde Dummheit des Mannes.

Später an jenem Abend fand ich Greta. Ich war irritiert gewesen, sie nicht anzutreffen. Als sie mich von hinten an stupste und ihre Augen, wie die eines Raubvogels, mich gewohnt kritisch visierten, hatte ich schon reichlich getrunken. Ich küsste ihr grinsend die Hand und zog sie an mich. Sie ließ es geschehen und doch erkannte ich, dass sie über mich urteilte. Tiff stieß zu uns, sie wollte uns ihr Apartment zeigen, ihr Bräutigam habe es gemietet, wir würden Augen machen.

Das Zimmer befand sich im selben Haus. Bloß ein paar Stufen hatten wir steigen müssen, ein, zwei Gänge gequert. Kaum in dem stilvollen Apartment angekommen, verließ uns Tiff, man habe nach ihr gerufen. Greta und ich blieben zurück. Über dem Gang hörte man einen Korken knallen. Ein ausgelassenes Glücksgefühl überkam mich, alles schien in Licht getaucht. Ihre Wangen glühten, als ich sie berührte.

Wir hatten uns zum Lunch verabredet. Greta hatte das Hotel vorgeschlafen. Als ich eintrat, saß sie an einem Tisch neben dem Fenster. Sie trug eine cremefarbene Hose und auffälligen Schmuck. Ihr Haar lag in weichen Locken. Ich straffte mein Jackett.

Die Begrüßung war unsicher, der Kellner brach das Schweigen. Er war freundlich. Mit gekonnten Bewegungen servierte er das Rindfleisch. Ich schob mir die vollgefüllte Gabel in den Mund, dankbar, nicht sprechen zu müssen. Ich schämte mich für mein kindisches Verhalten. Als ich fertig war, hatte ich Mut gefasst. Ich hatte mir sorgfältig gewählte Worte zurechtgelegt. Mein Blick fiel auf Gretas Teller. Alles schien mehrmals zerteilt zu sein. Das zerlegte Fleisch war sorgfältig von den Beilagen getrennt. „Was denn, Greta?“, fragte ich, verwirrt, meine fein zusammengebastelten Sätze hinten anreihen zu müssen, „Hat es nicht geschmeckt?“ Sie schüttelte den Kopf, es sei gut gewesen, sie habe bloß keinen Hunger.

Mein Blick wanderte vorbei an ihren knochigen Schlüsselbeinen über ihre spitzen Schultern und ich erschrak über die magere Hand, mit der sie ihr Glas umfasste. „Du hast selten Hunger?“ Meine Frage klang dilettantisch, mehr wie eine Feststellung. Sie schaute an mir vorbei. Ihre Augen waren klein und dunkel. „Sag bloß, Tiff habe dich von ihren Diäten überzeugt, wir haben über ihre Hirngespinste früher gelacht.“ Nun sah sie mich direkt an. „Ich wurde älter Jake, wollte auch Blicke auf mir spüren.“ „Aber du bist viel schlanker als Tiff. D siehst aus wie ein ausgehungertes Kind.“

„Das Essen war vorzüglich. Du hast es nicht einmal gekostet.“ Meine Hand schlug unsanft auf den Tisch, wir beide zuckten zusammen, klirrendes Besteck, eine Träne auf Gretas Wange. Ich fasste ihr Handgelenk. Sie wehrte sich nicht.

Greta wirkte starr und unnahbar. „Der Mensch wir geboren und setzt sich fest wie ein Zeck, saugt gierig alle Aufmerksamkeit auf, verschlingt alles, zu Allen scheint er berechtigt. Er gönnt sich ein Vergnügen, dann das nächste. Er überhäuft seine Nächsten mit einfallslosen Gedanken, verzehrt den Braten. Man hat schon so großes geleistet und beglückt die Umwelt  mit seiner Existenz.“

„Du klingst edel, Greta.“ „Ist der Protest edel oder ein kindischer Trotz. Mich quält der Gedanke, Unvermögen durch Weisheiten begründe zu wollen. Einerlei.“ Ihre Augen waren ohne Glanz und doch klar und klug. „Du findest Worte, Greta.  Fass deine Prinzipien in solche, man wird dir zuhören.“ Sie lächelte bitter. „Und wieder andere zwingen mir zuzuhören? Sie berühren wollen?“ Ich war das Kind und sie alt und leblos. „Hätte ich dir vorhin davon erzählt, anstatt dich bemerken zu lassen, du hättest versucht zuzuhören, doch hätte es nicht gelingen können, viel zu beschäftigt wärst du mit deiner kleinen Rede aus zusammengebastelten Gedanken gewesen. Man hat dir deine Anliegen angesehen.“ Meine Finger lagen, wie die eines Schuljungen auf Schläge wartend, auf dem Tisch. „Schäm dich nicht.“ Ich schämte mich. Nackt und bloß saß ich da.

Dann ein Räuspern. Geräusche und Gerüche gewannen an Schärfe. Ich wischte über meine Stirn, so als würde ich die dünnen Fäden unbedingter Vertrautheit, die zwischen uns gesponnen waren, von mir lösen wollen. „Du hast Recht. Ich möchte dir etwas mitteilen.“ Meine Stimme klang barsch und Unsicherheit zwischen den Worten hervor. Ich erklärte, dass es mir gut gegangen war, ich die letzten Monate fast zufrieden gewesen war. Jetzt spürte ich Zweifel, vielleicht meinte ich Verzweiflung.


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