Reisebericht eines jungen Mannes 4 - Frankreich 1930 (2014)
Frankreich 1930
Ich sah sie lange nicht mehr. Es tat mir leid. Die Fiesta
hatte mir gutgetan. Anfang Juli schrieb mir Leo einen verworrenen Brief. Seine
Gedanken waren ungeordnet zu Papier gebracht und auch sein Schriftbild war
undeutlich. Er erzählte von einem Rennen und den Nächten mit Stephania Maria.
Sie war ein junges Mädchen aus Pamplona. Er hatte sie beim Billiarde Spielen
kennengelernt. Sie kellnerte in einer Spelunke, die bevorzugtes Lokal Leos und
seiner Freunde war. Seine ausführliche Beschreibung Stephania Marias und ihrer
gemeinsamen Nächte ermöglichten mir einen tieferen Einblick in die Geschehnisse
in Pamplona, als mir wahrscheinlich lieb war. Noch dazu wurde ich das Gefühl
nicht los, dass Leo nicht bei der Wahrheit blieb. Ich hatte selbst schon
geliebt, kannte Mädchen wie Stephania Maria. Er sprach nicht die Wahrheit,
schmückte die Geschichte aus, um mein Interesse zu erwecken. Ich hasst das und
überlegte schon, den Brief in den Papierkorb zu werfen, dorthin, wo so eine
wertlose Geschichte hingehörte, doch ich las weiter und freute mich über seine
Einladung nach Vichy, wo er ein Haus über die freien Tage gemietet hatte.
Schenkte man seinen Zeilen glauben, handelte es sich um eine elegante Villa aus
den frühen 1820ern, die er um erstaunlich wenig Geld gemietet hatte und in der
sich in den nächsten Wochen ein einziges Fest ereignen würde.
Ich zögerte nicht lange, froh darüber, wieder nach
Frankreich zu kommen, und nahm auf Leos Anraten den Vormittagszug nach Vichy.
Im Zug hatte sich die Hitze der letzten Tage aufgestaut. Ich war froh, als ich
ausstieg und ein leichter Nieselregen mein Gesicht kühlte. Leo erwarte mich
schon am Bahnsteig, neben ihm Stephania Maria, die, um sich zu wärmen, von
einem Bein auf das andere sprang. „Die Spanierinnen halten das französische
Wetter schwer aus.“, lachte Leo meinen Blick bemerkend, als er mich mit einem
für ihn typisch festen Händedruck begrüßte. Stephania Maria umarmte mich
herzlich. Ich war überzeugt, dass Leo, die Nächte in Pamplona betreffend,
übertrieben hatte, bei Stephania Maria hingegen war er bei der Wahrheit
geblieben. Während sie von der Villa zu schwärmen begann, spielte sie mit ihrem
dunkelblonden Haar ohne unnatürlich aufreizend wirken zu wollen. Und doch war
sie sich ihrer Wirkung auf das andere Geschlecht bewusst. Ich bemerkte, wie
Leos Blick stolz auf ihr ruhte.
Ein Taxi brachte uns zu der Villa. Der Fahrer des Wagens
verbrachte sein ganzes Leben schon in Vichy und wusste, die unterhaltsamsten
Geschichten über seinen Heimatort zu erzählen. Ich hörte aufmerksam zu, Leo
schlief und Stephania Maria schaute leeren Blicks auf die vorbeiziehenden
Wälder. Die Straße wurde unregelmäßiger, als wir uns dem Haus näherten. Das
Regenwasser, das sich in den Schlaglöchern gesammelt hatte, erschwerte die
Fahrt. Er hörte auf zu erzählen, um sich auf die Straße zu konzentrieren. Er
war geschickt und die Fahrt war ruhig. Als wir ankamen und er unsere Koffer aus
dem Auto hob, sah ich, wie Schweiß auf seiner Stirn stand. Er war ein guter
Fahrer gewesen.
Stephania Maria hatte sich gleich nach der Ankunft für ein
Bad zurückgezogen. Leo und ich saßen im Salon und während wir ausgezeichneten
Scotch tranken, erzählte Leo von den Plänen für den gemeinsamen Sommer mit
Stephania Maria. Er erwähnte nur in einem Nebensatz, dass sie auch kommen
würden. Wahrscheinlich war es ihm unangenehm, Tiff eingeladen zu haben.
Überhaupt vermied er während des gesamten Gesprächs, über Madrid zu sprechen.
Erst nach dem Abendessen und einigen Flaschen Wein erwähnte er Tiff.
„Sie hätte es mir sehr übel genommen.“ Er beobachtete
Stephania Maria, die Klavier spielte.
„Was Leo?“ Ihre Finger flogen über die Tastatur.
„Hätte ich sie nicht eingeladen auch zu kommen, sie hätte es
mir übelgenommen.“ Der Wein tat mir gut. Er schmeckte angenehm schwer.
„Gut, dass du es getan hast.“ Seine Hand strich angespannt
über die Armlehne.
„Aber lieber wäre es mir, sie würde nicht kommen.“ Er
schaute mich an. Stephania Maria hörte auf zu spielen. Sie klappte leise den
Deckel über die Tastatur. „Du verstehst mich doch?“ Stephania Maria rollte sich
wie eine Katze auf seinem Schoß zusammen. Ich nickte.
Am nächsten Morgen beschloss ich, gleich nachdem ich mich
rasiert hatte, spazieren zu gehen. Die Villa war von wunderbaren Wäldern
umgeben. Wir wollten zum Lunch in die Stadt fahren. Ich genoss die Ruhe. Ich
begegnete nur einer alten Dame, die sich als die Frau des Försters herausstellte.
Ich ließ mich auf ein kurzes Gespräch ein. Ich war immer vorsichtig, wenn es
darum ging, dass meine Ruhe bewahrt werden musste, doch ich kannte Franzosen
und sie entsprach meiner Erwartung. Sie war mürrisch und doch nicht
pessimistisch, erzählte nicht viel und doch genug, um mich auf den neusten
Stand der regionalen Begebenheiten zu bringen. Ich mochte dieses vielen
Franzosen gemeinsame minimale Gestikulieren. Ich mochte Spanier. Ich mochte die
offene Art der Südländer und doch genoss ich die Abwechslung. Wir
verabschiedeten uns nach einigen Minuten wieder.
Auf meinem Weg nachhause dachte ich über Leo nach. Ich
dachte an seine Worte auf der Brücke in Spanien. Er hatte sich verloren, als er
über den Krieg gesprochen hatte. Seitdem hatte ich ihn nur selten gesehen. Nie
war er wieder so gewesen wie damals. Er ergriff jede Gelegenheit, die
Dankbarkeit für das Haus und sein Mädchen mitzuteilen und doch hatte er gestern
mehr getrunken, als ihm guttat. Sonst kannte er sein Maß, eine Eigenschaft, die
ich bei all meinen Freunden schätzte. Er hatte sich nicht kontrolliert
verhalten. Er hatte nicht zum Genuss, sondern zum Verdrängen getrunken. Es
machte mir Sorge.
Ich kam erst kurz vor dem geplanten Abmarsch zum Lunch
zurück in die Villa. Als erstes sah ich Leo. Seine Augen waren müde und ein
wenig flehend. „Bitte rede mit ihr, Jake, du kannst sie bestimmt beruhigen. Sie
ist heute fürchterlich launisch.“ Er schob mich in die Küche. Im Esszimmer
blieb er einen kurzen Augenblick stehen, um mich zwei Personen vorzustellen,
die es sich, trotz angespannter Stimmung, versuchten gemütlich zu machen. Es
handelte sich um zwei Frauen aus Paris.
In der Küche angekommen, machte Leo mit der eher
unglaubwürdigen Entschuldigung, er müsse dringend Telefonate erledigen, am
Absatz kehrt. Stephania Maria tobte nicht mehr. Als ich das Haus betreten
hatte, hatte ich sie gehört, wie sie Leo mit spanischen Satzfetzen
ausgepeitscht hatte. Jetzt saß sie zusammengekauert auf der Fensterbank und zog
abwesend an einer eigenhändig gerollten Zigarette. Mich neben sie setzend,
erkannte ich, dass sie etwas durch das Fenster beobachtete. Ihre Haare fielen
zart über ihre knochigen Schultern, wenige Strähnen klebten ihr auf der Stirn.
Sie schaute nun ruhig aus, doch ihre vollen Lippen zitterten, während sie den
Rauch gegen die Fensterscheibe blies und ihre Finger bohrten sich in die weiße
Seidenbluse. „Sie ist schön, nicht?“ Sie schaute weiter auf die Wipfel der
Bäume. „Sie ist aus Seide.“ Sie warf ihr Haar nach hinten, um meinen Blick auf
ihre Bluse zu lenken. „Hat mir Leo geschenkt, in Pamplona.“ Sie öffnete das
Fenster und warf die Zigarette hinunter ins nasse Gras. „Er wollte, dass ich
schön aussähe, wenn ich seine Freunde, seine schicke Bekanntschaft aus Paris,
kennenlernen würde.“ Sie ließ ihren Kopf auf ihre Knie fallen und blickte auf
ihre Zehen. „Gefreut hatte ich mich, wie wahnsinnig gefreut, kannst du dir gar
nicht vorstellen.“
„Ich trage die Bluse und habe mir die Lippen nachgezogen,
siehst du?“
„Ja.“
Sie lächelte gequält. „Und sehe ich schön aus, ich meine,
gefalle ich dir?“
„Ja, du siehst sehr nett aus heute.“
„Nicht genug für ihn. Nicht einmal die Küche verlassen
durfte ich, als die zwei Damen aus Paris kamen.“ Sie sah mich an, als wäre ich
für Leos Ignoranz verantwortlich. „Sehr enge Bekannte sind das. Er kennt sich
lange, hatten aufregende Jahre in Paris. Jahre in denen ich noch zur Schule
ging. Er lachte eine Menge, als sie sich begrüßten. So viel lacht er selten.
Das kann ich dir sagen, so viel lacht der selten.“
Leo betrat die Küche, um Weingläser zu holen. Er versuchte,
unbemerkt zu bleiben. Es war unangenehm. Man hörte laute Stimmen aus dem
Esszimmer, dann Musik.
„Was siehst du, wenn du auf die Bäume blickst, Jake?“ Ich
war verwundert über diese Frage und räusperte mich verlegen. „Ich sehe Blätter
und Äste.“ „Ach, schau doch genauer.“ Sie stand erbost auf, um in einigen
Töpfen auf dem Herd zu rühren, in denen es brodelte. Anscheinend hatte sich der
Plan geändert und wir hatten doch vor, zuhause zu lunchen. Der Duft, eine
Mischung aus provenzalischen Kräutern und feiner Chorizo, fiel mir erst jetzt
auf. Ich richtete meinen Blick wieder aus dem Fenster. „Da sind Nester, Jake,
lauter kleine Nester.“ Sie klopfte den Kochlöffel an dem Rand eines Topfes ab.
„Und darin hocken sie. Lauter Weibchen warten auf ihre Männchen.“ Ich fragte
mich, was sie mir zu sagen versuchte zu. Sie durchsuchte orientierungslos den
Holzschrank, der neben der Tür stand. „Die Männchen werden sich jeden Tag bis
in die Macht herumtreiben. Sie werden sich alles erlauben können, denn sie
haben die schöneren Federn, sind so unglaublich begehrenswert. Die Weibchen
werden nie müde sein, auf sie zu warten. Egal was die Weibchen versuchten, sie
könnten nie deren Schönheit erreichen. Aber sie werden immer warten und immer
versuchen zu gefallen.“
Sie saß wieder neben mir. Ich wusste nicht, was ich erwidern
sollte. Eine Dose fiel aus dem Vorratsschrank und sprang auf. Bohnen
versteilten sich über dem dunklen Holzboden. Sie war hingestolpert und hockte
nun mitten in ihnen, ohne Anstalten zu machen, sie aufzuklauben. Sie schaute an
mir vorbei.
„Ich habe das alles so satt, Jake.“
Während des Lunchs verhielt sich Stephania Maria schweigsam.
Es stellte sich jedoch ohnehin als nahezu unmöglich heraus, in dieser Runde zu
Wort zu kommen. Die eine der Frauen entpuppte sich als emanzipierte
Wissenschaftlerin und Literaturpassionierte mit einem Hang zur Diskussion und
zu wenig Selbstironie, die eine Anekdote nach der anderen zum Besten gab.
Stephania Maria fragte sie, ob sie ihr carne aufwärmen sollte. Es sei doch
sicher schon kalt. Ich schmunzelte. Die Begleiterin ebenso. Leo warf ihr einen
mahnenden Blick zu. Sonst amüsierte er sich prächtig. Man merkte, wie er Paris
vermisste. Als Stephania Maria sich entschuldigte, um sich ein wenig schlafen
zu legen, zog ich mich auch zurück.
Ich musste durch das ganze Haus, um zu der Bibliothek zu
gelangen. Die hohen Regale waren zwar nicht reich bestückt, man merkte, dass
die Villa nur selten bewohnt war, jedoch fand ich ein paar Bücher, die mich in
ihrer Qualität überraschten. Ich bevorzugte zu diesem Zeitpunkt die Vertreter
der russischen Unabhängigkeitsbewegung der letzten Jahre des Zarenreichs. Es
überraschtem ich, hier eine Auswahl an Kurzgeschichte und Artikeln aus den
Jahren zwischen 1900 und 1903 zu entdecken. Ich setzte mich in einen der
Lehnstühle. Die Türe wurde leise geöffnet. Ich hoffte inständig, dass mich die
nun am Regal entlangschleichende Person, nicht bemerkte.
Plötzlich stand sie direkt neben mir, ihre Ellbogen
aufgestützt auf meiner Armlehne. Es war die Tänzerin. Die zweite der beiden
Neuangekommenen aus Paris. Sie setzte sich auf den Boden vor meine Füße und
begann mich über das Buch, das ich gerne weitergelesen hätte, auszufragen. Sie
hatte einen breit lächelnden Mund und freundliche Augen. Mir fiel lauf, dass
sie während dem Lunch ebenfalls nicht gesprochen hatte. Nun plauderte sie
munter. Sie sprach eine Mischung aus Englisch und Französisch, beides durch
ihren nordafrikanischen Akzent schwer verständlich. Ich gab mir Mühe, ihr zu folgen
und ihre Fragen zu beantworten. Nach einiger Zeit genoss ich ihre Gesellschaft.
Sie war erst vor wenigen Jahren nach Paris gekommen. Sie hasste anfangs die
Stadt, das Neon Licht und die Leute, die sich in Nachts durch die Gassen
drängten. Nun habe sie sich an den Wahnsinn gewöhnt. Sie lachte kokett und
richtete sich auf. Sie habe schon in allen bekannten Bars getanzt. Sie zählte
einige von ihnen auf. Ob ich sie kenne? Ich kannte sie alle, war schon selbst
dort gewesen. Sie freute sich wie ein Kind, sagte, sie fände ich sei ein
prächtiger Kerl. Sie möge mich. Ich mochte sie auch. Ich verstand Leo, dass er
ihrem exotischen Charme einst verfallen war. Und Stephania Maria verstand ich
auch.
Wir verbrachten den ganzen Nachmittag in der Bibliothek. Am
frühen Abend trafen wir wieder die anderen. Wir wollten uns in die Stadt
aufmachen, um dort Tiff zu treffen. Hätte ich geahnt, wie dieser Abend
verlaufen würde, wäre ich nicht mehr außer Haus gegangen. Doch das konnte ich
nicht. Noch konnte niemand etwas ahnen. Ich wünschte, ich hätte es gewusst.
Die Hitze, die sich in der Stadt, während des Tages zwischen
den Häuserwänden aufgestaut hatte, erstaunte mich. Auch der Besuch aus Paris
wirkte, als wäre etwas Anderes erwartet worden. Die junge Tänzerin, die sich
als Josie vorgestellt hatte, doch eigentlich, wie ich von Leo erfuhr, Nimu
hieß, schob unglücklich dreinschauend ihren Pelz von den Schultern in ihre
Schlanke Taille. Auch die Zweite namens Pilar J. Tornsten versuchte,
selbstdiszipliniert Haltung zu bewahren. Ich bemerkte die kleinen
Schweißtropfen auf ihrer Oberlippe und zückte mein Stofftaschentuch, um es ihr
unauffällig zu geben. Ich glaubte in ihrem Blick hinter Arroganz einen leichten
Anflug von Dankbarkeit zu erkennen.
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