Kurzgeschichte
Marie Hummer – Einsame
Weihnacht
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r hatte ihn schon oft beobachtet. Es war für ihn keine
Überraschung mehr, wenn er ihn auf der Kirchentreppe sitzen sah. Er lächelte
dem kleinen Buben jedes Mal zu, wenn er zur Sonntagsmesse ging, aber der Junge
lächelte nie zurück. Er schaute ihn nur mit großen Augen an. Einmal ging er zu
dem kleinen Buben und sagte: „Hallo, ich
bin Jürgen.“ Dann warf er dem Jungen eine Silbermünze in den Pappbecher. Er
hatte sie beim Zeitungsaustragen
verdient. Der Betteljunge schaute ihn wieder nur mit großen Augen an. Jürgen
wollte den kleinen Jungen immer fragen, wieso er denn auf der Treppe saß und
nicht bei seiner Familie war, doch er durfte nicht. Mutter wollte nicht, dass
er mit dem Betteljungen sprach.
An Heiligabend bat ihn seine Mutter, schnell zum Kreisler zu
laufen und Rotkraut für den Braten zu holen. Der Greißler hatte immer offen,
sogar zu Weihnachten, der Mann, der dort arbeitete, hatte keine Familie, genau
wie der kleine Bub auf der Kirchentreppe. Jürgen lief los und als er den
Bettlerjungen auf der Treppe sitzen sah, fühlte er Mitleid. Es war bitterkalt
und der Bub war nur leicht bekleidet. Jürgen kaufte Rotkraut beim Greißler, wie
es die Mutter ihm gesagt hatte. Aber um die Münzen, die ihm überlieben, kaufte
er dem Jungen ein Paar Handschuhe, eine Wurstsemmel und einen kleinen
Stoffbären, damit der Junge auch ein Weihnachtsgeschenk bekam. Als er zur
Treppe kam, saß dort der Bub und zitterte, dass seine Zähne heftig klapperten.
Jürgen gab ihm seine Geschenke und der kleine Bub sah ihn mit großen Augen an.
Und dann lächelte er, er lächelte so, dass es Jürgen ganz warm ums Herz wurde.
Am nächsten Tag lief Jürgen gleich zur Treppe. Der Junge lag
auf der obersten Stufe, den kleinen Bären hielt er fest in seinen blassen
kleinen Händen. Jürgen rief: „ Hallo!“, doch der Junge antwortete nicht,
lächelte nicht, öffnete nicht einmal die Augen. Er war erfroren. Da ging Jürgen
näher und legte seine Hand auf die Schulter des toten Buben – gestorben in der
kalten Weihnachtsnacht – einsam und doch nicht alleine.
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