Reisebericht eines jungen Mannes 2 - Spanien 1925 (2014)


Spanien 1925

Der große Marktplatz vor der Kathedrale war von der abendlichen Sonne in ein warmes Rosarot getaucht. Ein für diese Jahreszeit unüblicher Wind hatte am Vormittag den einen oder anderen Marktstand seines Dachs beraubt. Nun erinnerte die leichte Brise an eine einen mit sanfter Hand berührende Venus, deren weiche Formen sich an einen schmiegten.

Ich warf dem Ziehharmoniker Spieler eine Münze zu. Er war wie immer an der Mauer der alten Taverne gelehnt, melancholisch Melodien drangen zu mir herüber.

Ich überquerte mit gesenktem Blick den Platz und hoffte, dass mich niemand erkenne und, auf einen schnellen Drink bestehend nötige, zu verweilen. Solch ein kurzer Austausch war durchaus keine Seltenheit, egal ob man bereits verabredet war. Mein Bekanntenkreis hatte sich in den letzten Monaten ansehnlich ausgedehnt. Normalerweise ließ ich ohne weiteres für ein Glas mit dem Einen den Nächsten warten, heute wollte ich jedoch so schnell wie möglich weiter.

Erst als ich auf den Plaza de Frances trat und die in den zur Mitte hin gesenkten Platz gebettete Bar sah, bemerkte ich, dass ich außer Atem war. Ich hasste für gewöhnlich Hast. Es war Leos Wunsch, sich hier zu treffen. Kinder liefen Runden um die vollbesetzten Tische und die Hunde tollten auf den kühlen Pflastersteinen. Es war schwer, in der Menge ein bekanntes Gesicht auszumachen, doch bevor ich nach Leo rief, gingen die Straßenlaternen an. Direkt unter einer von diesen erkannte ich, beleuchtet von dem goldschimmernden Licht, Tiff sitzen. Sie lag viel mehr in dem Korbsessel, als das sie saß. Ihre nackten Beine hatte sie bequem über eine der Armstützen gelegt. Diese Pose hatte anscheinend nicht nur auf mich eine von ihr beabsichtige Wirkung, denn abgesehen von Leo saß ein halbes Dutzend Madrilenos um den Tisch und beobachtete genau wie Tiff, quirlig erzählend, eine Artischocke aß.

Als ich mich zu ihnen durchgekämpft hatte, sprang sie auf und fiel mir in die Arme. „Wie lange ist es her?“, fragte sie mehrmals sowohl auf Spanisch wie auch Italienisch. Ich bemerkte aus dem Augenwinkel die Blicke der Madrilenos und strich den Rock des filigranen Spitzenkleides, der sich in der Umarmung unter meinen Händen leicht gerafft hatte, weiter nach unten.

Leo erhob sich zur Begrüßung zwar nicht aus seinem Stuhl, doch ich erkannte auch seinerseits Freude. Nachdem ich die Madrilenos höflich gebeten hatte, uns alleine zu lassen und dann, als sie beleidigte Gesichter gemacht hatten, doch noch eine Runde ausgegeben hatte, Leo sie endgültig weggeschickt und Tiff doch ein letztes Mal für alle Scotch Soda bestellt hatte, waren wir endlich zu dritt. Leo lehnte sich zufrieden im Sessel zurück. „Junge ich kann dir sagen, Tiff hat sich tierisch auf dich gefreut, wollte dir schon entgegengehen.“ „Unsinn Leo!“, unterbrach diese und lächelte mich von der Seite an. Ich hatte diese Sekunden, in denen man von einer unbeschreiblichen Zufriedenheit erfüllt war, bloß, weil sie einen aus ihren neugierigen Kinderaugen ansah, vergessen.

In der folgenden Stunde erzählten Leo und Tiff die absurdesten, ulkigsten Geschichten aus Venduro und da die beiden eine Neigung dazu hatten, Geschichten mit ihrer Fantasie entspringenden Details, durch die sie noch unfassbarer oder ulkiger wurden, auszuschmücken, unterbrachen sie mehrmals den anderen, um das Ein oder Andere richtig zu stellen.

Als Leo gerade von einem enttäuschenden Pferderennen in Granada erzählte, schlug Tiff in üblich theatralischer Pose ihre flache Hand auf ihre Stirn. „Kinder, ich habe vergessen, euch zu sagen, wer mich auf der Reise begleitet.“ Leo schmunzelte und zog eine seiner Augenbrauen fast unmerklich hoch. Ich kannte diesen Blick. Auch er dachte an Tiffs ständig wechselnde Liebhaber, die meistens eher optische als geistige Vorzüge aufwiesen. Dies ließ sich jedoch nur feststellen, wenn sie unsere Sprache sprachen und eine funktionierende Verständigung stellte für Tiff nur selten ein Kriterium für ihre kurz anhaltenden Beziehungen dar. Wir täuschten uns gewaltig. Nachdem sie sich von dem Nachbartisch Feuer geben ließ, warf sie mit einem Seufzer ihr langes Haar in den Nacken und sagte, während sie ihren Blick über den Plaza schweifen ließ: „Ihr werdet es nicht glauben, aber Greta ist meine Begleitung auf dieser Reise.“

Wir hatten uns für zwölf Uhr am Plaza de Azul verabredet. Ich war am Morgen leicht aus dem Bett gekommen und hatte auf ein ausgedehntes desayuno verzichtet, weswegen ich zur Ausnahme pünktlich war. Ich hatte gleich nach dem Aufstehen in Leos Hotel anrufen lassen, um sicher zu gehen, dass es bei zwölf Uhr blieb. Er hatte zu dem Zeitpunkt meines Anrufs bereits das Hotel verlassen, um ein paar Scheine auszufüllen. Trotz der miserablen italienischen Aussprache des Portiers, der Leos an mich gedachte Nachricht telefonisch durchgab, verstand ich, dass Tiff entschieden hatte, zum Frisör zu gehen und Leo sie dort abholen werde. Nachdem er mich noch bat, ausreichend Peseten mitzunehmen, damit wir brauchbaren Einsatz hätten, um beim heutigen Pferderennen mächtig Gewinn zu machen, entschuldigte er sich noch für die unvermeidliche Verspätung, zu der es, wie ich wüsste, allzu leicht kommen konnte, wenn man sich mit Tiff verabredete.

Ich ließ meinen Blick über den Platz schweifen. Die vielen Bäumen sahen im Licht der Mittagssonne unnatürlich satt und grün aus und so lag er wie eine Oase mitten in der Wüste aus sandfarbenen Häusern vor mir. Er war von einem angenehmen Treiben erfüllt. Während die Kinder in der heißen Mittagssonne spielten, hatten es sich ihre Eltern und Großeltern im Schatten unter den Bäumen gemütlich gemacht und genehmigten sich kalten vino. Die Bänke, die nicht, von einem der Bäume vor der Sonneneinstrahlung geschützt, lagen, waren kaum besetzt. Auf einer von diesen erkannte ich Greta, die wie üblich nachdenklich und mit abwesendem Blick ein paar Kinder beobachtete, die ihre Füße ins erfrischend kalte Wasser des Brunnens baumeln ließen. Ich war überrascht über die Freude, allein ihr Gesicht wiederzusehen.

Ich setzte mich neben sie und fragte, wie ihr Madrid bis jetzt gefiel, worauf sie antwortete, dass es ihr durchaus zusagte, sie jedoch erst wenig gesehen hatte, da Tiff sie nicht alleine aus dem Hotel ließ. Sie nähme sie jedoch auch nur ungern mit, wenn sie Bekannte traf oder zum Einkaufen gehe. Sie erzählte mir auch von ihrem Verdacht, dass es sich bei den Bekannten um einen neuen Liebhaber handelte und wir lachten über Tiffs Durchschaubarkeit. Ich hatte diese Gespräche vermisst. Gretas ruhige, direkte Art. Wenn sie sich in einer Gesellschaft wohlfühlte, was nur selten der Fall war, sprach sie Dinge mit einer nur ihr eigenen Klarheit aus.

Greta hörte auf zu lachen und betrachtete mit zusammengekniffenen Augen den Brunnen. Ich beobachtete sie von der Seite. „Weißt du, ich habe das vermisst. Du warst lange weg, Jake. Du hast mir gefehlt.“

Ich war erstaunt über diese Direktheit und nach ihrem Blick zu urteilen, der sich zwar weiterhin auf den Brunnen richtete, doch an jeglicher Fokusiertheit verloren hatte, sie auch. Tiff und Leo näherten sich, laut unsere Namen rufend und winkend, der Bank und retteten uns aus dieser Situation. „Tag Kinder“, begrüßte uns Tiff etwas außer Atmen und doch voller Elan, „Ich habe dem Friseur gesagt, er solle einen Zahn zulegen, doch er meinte, ich würde aussehen wie Misia Sert nach einer Nacht im Jouleux, wenn er die Locke nicht langsam aus föhne. Aber Leo ist mich glücklicherweise mit dem Taxi anholen gekommen. Ein Mordsglück, dass der gute Leo mitgedacht hatte, nicht?“ Sie hängte sich breit lächelnd bei Leo ein, der abgesehen einer knappen Begrüßung noch kein Wort gesagt hatte und nach seiner gerunzelten Stirn zu urteilen, war das vormittägliche Rennen, für das er extra frühmorgens Scheine ausgefüllt hatte, nicht nach seinen Vorstellungen verlaufen. Kannte man Leo, wusste man, dass dies den Verlust einer ordentlichen Menge Geld bedeutete und einer nicht geringeren Anzahl Freunden, die seinem Wissen vertraut hatten.


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