Thesenpapier Münchner Schule
Münchener
und Tübinger Schule zur Reform der volkskundlichen Perspektiven nach 1945
1. Situation
nach 1945
Vertreter der Volkskunde versuchen retrospektiv eine
Unterscheidung zwischen politischer Volkstumsarbeit und im Schatten betriebener,
seriöser Volkskunde.
2. Münchner
Schule
Die Münchener Schule macht sich die „exakt-historisch[e]“ (S. 6)
und quellenkritisch argumentierte Beschreibung der ländlichen Bevölkerung und
der unteren sozialen Schichten („Volkswelt“ (Kramer: 30)) weg von „spekulative[r]“
(Kramer: 6) Theoretisierung zur Aufgabe.
2.1. Perspektiven
- Elemente der
Lebensgestaltung der zu untersuchenden Schichten stammen nicht in unveränderter
Form aus archaischer Zeit, sondern sind sowohl in „Beharrung“ als auch
im „Wandel“ (Kramer: 30) zu denken, wobei diese in unterschiedlichen,
sich ständig verändernden Verhältnissen zueinander stehen.
- Phänomene sollen nach den Vertretern der Münchner Schule im räumlich
und zeitlich begrenzten Feld, einem oder mehrerer „kulturell[er] Systeme“
(Kramer: 30) klar zugeordnet und unter Berücksichtigung der beeinflussenden Faktoren des ständigen
Wandlungsprozesses dargestellt werden.
- Die Kultur sei ein zusammengesetztes „Gefüge“ (Kramer:
25), gebunden an eine durch systemspezifische Merkmale geprägte „kulturelle
Einheit“ (Kramer: 25). Jenes sei mosaikartig aus gruppenspezifischen
„Spielart[en] von Kultur“ (Kramer: 25), also den kulturellen Eigenheiten einzelner
sozialer Schichten einer „Einheit“ (Kramer: 25) zusammengesetzt.
- Kramer spricht von der Wirkung „[b]ewegende[r] Kräfte“
(Kramer: 27), wie beispielsweise „Obrigkeit“, „Innovation“ (Kramer: 27),
wirtschaftliche Situation oder „Bevölkerungsbewegung“ (Kramer: 28), die
maßgeblich an sozialen Veränderungen beteiligt sind.
- Die epochale Einteilung der Zeitgeschichte sei in
Betrachtung der Lebensweisen des sozialen Unten zu überdenken.
2.2. Quellen
- Im Vordergrund steht die Arbeit mit „Archivalien“
(Kramer: 6) (Rechnungen, Protokolle, amtlicher Schriftverkehr,
Stadtrechtsordnungen etc.). Brauchbare Quellen sind nach den Vertretern der
Münchener Schule nur solche, deren Entstehungszeit und -ort sowie die
Milieuzugehörigkeit des Verfassers nachvollziehbar sind.
- Karl-S. Kramer unterscheidet in der Analyse von Quellen
grundsätzlich zwischen „objektiven und subjektiven Quellen“ (Kramer:
16). Er geht, trotz kritischer Stimmen, davon aus, dass objektive Quellen, wie
Rechnungen oder Verträge, zumeist „glaubwürdig“ (Kramer: 17) sind. Subjektive
Quellen, wie beispielsweise literarische Schilderungen von Bräuchen, könnten
hingegen bloß Einsicht in „zeitgebundene Auffassungen“ (Kramer: 16) geben.
- Karl-S. Kramer und Hans Moser stellen der Kritik an der Arbeit
mit „archivalischen Quellen“ (Kramer: 23), eine epochenabhängige
Differenzierung entgegen. Sie halten „Archivalien“ (Kramer: 6) für die geeignetsten Informationsgeber,
bis im 19.Jh. die „fachspezifische[r] Literatur“ (Kramer: 23) als solche
nutzbar ist. Auch der Vergleich von Fachliteratur und historischen Archivalien
sei wichtig.
2.3. Ziele
- Moser plädiert für die „vollständiger[e]“ (Kramer: 24) Aufzeigung
des Lebensvollzugs unterer Schichten „der letzten 500 Jahre“(Kramer: 23)
durch genaue Erforschung kleiner Ausschnitte, wobei Kramer ergänzt, dass es um
das Erschließen „kritische[r] und „stabile[r] Punkte“ (Kramer: 24) im
alltäglichen Leben gehe.
- Im Vergleich zu anderen Quellenformen sehen die Vertreter der
Münchner Schule den größten Aufholbedarf bei der Arbeit mit
„archivalische[m] Stoff“ (Kramer: 23)
- Kramer spricht von einer „Zusammenschau“(Kramer: 7), im
Sinne einer weitreichenderen Einbeziehung zu beachtender Aspekte, sodass ein
volkskundliches Thema in einer „kulturelle[n] Einheit“ (Kramer: 25) nicht zu
isoliert von verschiedenen Einflüssen (Wirtschaft, Obrigkeiten etc.) behandelt
wird.
3. Tübinger
Schule
Durch die Annäherung der Volkskunde an die Sozialwissenschaften,
wird das Fach an Universitäten neu gegliedert und benannt. In Tübingen wird die
Disziplin als ‚empirische Kulturwissenschaft‘ bezeichnet.
‚Empirisch‘ impliziert
rationalistisch angewandte Logik, ‚Kultur‘ weist auf das Ganze der Gesellschaft
hin.
Es ergeben sich drei Strömungen im
Wissenschafts-, Bildungs-, und Kulturbetrieb:
-Theorie- und Methodendebatte
in den Sozial- und Geisteswissenschaften
Der ‚Positivismusstreit‘ entsteht
während der Methodologie-Debatte. T.W. Adorno und K. Popper sind
in diesem Zusammenhang zu nennen. Die
Debatte behandelt Werturteile in der Theorienbildung und Kulturwissenschaft. Um
vor einer Mythologisierung zu bewahren, orientiert sich die Tübinger
Kulturwissenschaft an Poppers kritischem Rationalismus und erfahrungswissenschaftlicher
Methodenlehre.
- Entkonventionalisierung
der Kultur
Die Weitung des Kulturbergriffs
führt zu einer soziologisch relevanten, ‚aufklärerischen‘ Forschung.
- Opposition
der formierten Innerlichkeit
Formierte Innerlichkeit (‚Anthropologie
des schlechten Gewissens‘) beschreibt die Gegner einer Ideologie des Vergessens
und Verdrängens (1968er Generation).
4. 1970er/1980er
Jahre
- Der ‚interpretative turn‘ steht
für den Wandel hin zu weicher, qualitativer Hermeneutik.
- Die Frauen- und
Geschlechterforschung
Es ergeben sich drei Themenverdichtungen durch die in den 1960ern
neu angewandten Methoden:
- Kommunikations- und Sprachsoziologisches Arbeitsfeld
-Grundlagen, Verfahren,
Modellanalysen zur Erforschung populärer Literatur
-Sprachsoziologische Studien (Bsp.
Dialektik als Sprachbarriere)
- Gemeindestudien
Alte Forschungsfelder eines ‚Kulturganzen‘
(z.B. Dorf, Gemeinde) werden anhand in den neuer Methoden und Thesen der 1960er
Jahre (z.B. ‚Zivilisationsprozess‘ (Elias)) untersucht.
- historische und gegenwärtige Alltagsforschung
-Religions- und Konfessionskultur
-Arbeiterkultur
-Wohnweise (statt Bauernhaus)
-Popkultur (statt Märchen)
5. Fazit
Sich der eigenen Fachgeschichte bewusst zu werden, ist gerade in der
in Vergangenheit politisch instrumentalisierten Volkskunde bedeutend. Der durch die Münchener
und Tübinger Schule erfolgende Paradigmenwechsel steht für die exakte
quellenkritische Kulturanalyse weg von Mythologisierung. Durch die Annäherung
an die Sozialwissenschaft können neue Ansätze übernommen und entwickelt werden.
Gesellschaftliche Phänomene des Alltags können genauer, in neuartigem Kontext erforscht
werden.
6. Literatur
Karl-Sigismund Kramer: Beschreibung des Volkslebens. Zur
Entwicklung der „Münchener Schule“. München 1998, S. 6-33.
Gottfried Korff: Namenswechsel als Paradigmenwechsel? Die Umbenennung
des Faches Volkskunde an deutschen Universitäten als Versuch einer
Entnationalisierung. In: Sigrid Weigel und Birgit R. Erdle (Hg.): Fünfzig Jahre
danach. Zur Nachgeschichte des Nationalsozialismus. Zürich 1996, S. 403-435.
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