Prosa: Reisebericht eines jungen Mannes 1 - Toskana 1917 (2014) / Inspiration: Ernest Hemingway
Toskana 1917
Es war heller als gewöhnlich in dem Esszimmer, das sich im
zweiten Stock des Hauses befand. Das warme Licht der Mittagssonne erfüllte den Raum. Die schweren Samtvorhänge
hatten aufgegeben, die Dunkelheit der Wintermonate zu bewahren. Das
pastellfarbene Mobiliar war elegant und die frischen Sonnenblumen spähten einladend
zu der Tür herüber, die in den Korridor führte. Ich faltete duftende
Stoffservietten. Obwohl ich schon bei der zwanzigsten angelangt war und
trotzdem noch ein Stapel kunstvoll auf Porzellantellern drapiert werden musste,
fühlte ich die Freude an der Arbeit. Während meine Hände, ohne auf Anweisungen
meinerseits zu warten, falteten, sah ich zu Camille, die auf der Fensterbank
saß.
Mit strengen Augen begutachtete sie sich in einem
asiatischen Handspiegel. Sie nickte wissend und sagte, meine Aufmerksamkeit als
Selbstverständlichkeit erachtend: „ Diese Gedanken, sie bringen mich um. Haben
sie schon immer getan. Doch früher, da waren sie rein und klar. Und jetzt? Es
sind zu viele Gedankenfetzten. Sorgen, die sich nicht mehr ordnen lassen. Die
wann sie wollen kommen und ich komme nicht nach. Ich komme nicht nach, sie zu
ordnen und diese Verwirrung macht sie zu Klumpen. Sie sind der Staub, dem ich
mit meinem Besen nicht nachkomme. Und jetzt, sieh dir das an! Ist das nicht
furchtbar? Ich meine, siehst du das?“ Ich schaute sie nur an, ohne zu antworten,
da ich diese Art von einseitig geführten Gesprächen zwischen mir und Camille
schon kannte. Ich wusste, dass bei Camilles Fragen selten Antwort erwartet
wurde. „Jake, ich verzweifle! Die Falten auf meiner Stirn. Heute am Morgen sind
sie mir zum ersten Mal aufgefallen. Ich schaute in den Spiegel und da sah ich
die Narben, Erinnerungen an die Sorgen, die meinen Kopf zum Platzen bringen.“
Sie drückte theatralisch den Spiegel auf die Bank neben sich. Dann vergrub sie
ihr Gesicht in ihrem aufgestützten Arm.
„Camille“, sagte ich, „Camille, Sie müssen wissen, dass
sie-“ Die Tür ging mit einem Ruck auf und Estelle kam mit einem gefüllten
Truthahn in den Raum gestapft. Mit einem Seufzer stellte sie das Tablett in die
Tischmitte und betrachtete das Ergebnis stundenlanger Arbeit. „So, geschafft.“,
murmelte sie nach der Begutachtung, während sie ihre Hände in der Schürze
abwischte. Dann fiel ihr Blick auf Camille, die in unveränderter Pose auf der
Fensterbank lag. Sie erinnerte an einen gefallenen Engel. Estelle erkannte die
Ähnlichkeit nicht, legte lediglich ihren Kopf schief und kniff ihre Augen
zusammen: „ Camille, weißt du eigentlich wie spät es ist? Liegst da in Hose und
Hemd und in einer halben Stunde -. Zieh dich an! Hinauf mit dir!“
Estelle war die einzige in diesem Haus, die so mit Camille
sprach. Sie behandelte sie noch wie ein Kind. Dabei war jene selbst Mutter und
wahrscheinlich wenige Jahre jünger als Estelle. Ich glaubte, dass Camille
Estelle brauchte, auch Estelle wusste das. Camille erhob sich wortlos von der
Fensterbank und ging zur Tür, die durch den Garten in das zweite Haus führte,
hinaus. Sie konnte gehen als würde sie über den Boden schweben und hatte eine
sagenhafte Haltung. Als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, schüttelte Estelle
den Kopf, während sie das Silberbesteck verteilte. Ich nützte aus, mit ihr
alleine zu sein. „Estelle?“, fragte ich und wartete geduldig bis sie mich mit
ihren neugierigen Augen ansah, „Ja, mein Junge?“ „Wieso“, ich räusperte mich.
Ich konnte nicht einschätzen, ob meine Frage provokant wirkte. „Wieso hat
Camille immer wieder einen Liebhaber und ist doch allein?“ Estelle zog die
Augenbrauen in die Höhe. Ihr seufzen verriet, dass sie sich schon dieselbe
Frage gestellt hatte. „Schau mein Junge, Früchte brauchen ihre Zeit um richtig
reif zu werden, genießbar zu sein.“ Ich erkannte nicht, auf was sie hinaus
wollte. „Sind die Früchte dann reif, sind sie ein großer Genuss. Denn jetzt
sind sie nicht nur schön anzusehen, sondern sie zu essen, ist nun ebenso
herrlich. Doch, und das ist unvermeidlich, mit der Zeit wird jede Frucht alt,
zu alt, sie wird klein und schrumpelig und - ja und so weiter, du kennst ja zu
altes Obst. Auf jeden Fall gibt es eine Möglichkeit den Früchten dieses
Schicksal zu ersparen. Man macht sie zu etwas ganz besonders Himmlischen, zu
kandierten Früchten. Ihre Schönheit bleibt erhalten. Beim ersten Bissen einer
solchen Frucht, will man nur noch in Zucker gelegtes Obst essen und von
Frischem gar nichts mehr hören. Doch irgendwann klebt der Zucker zwischen den Zähnen
und man bekommt Bauchschmerzen. Man sehnt sich nur noch nach einem: Einem
guten, frischen, gerade richtig gereiftem Stück Obst. Leider ist das so. Leider
für die arme Camille. Sie trägt ihren Zuckermantel, doch die Enttäuschungen
nehmen ihr die Würde.“
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