Romanbeginn
Roman
Dies ist die Geschichte fünf Intellektueller auf der Flucht
vor der Sorglosigkeit.
Die Kunst des Lebens ist es, das Glück nicht infrage zu
stellen.
Carola
Als der Sommer zurück in die Stadt kommt, wächst in ihr eine
Vorahnung heran, genährt von Angst – außer dann, wenn in kurzen Momenten die
innere Ruhe die vom Nebel der Gedanken geschwächten Strahlen der Zuversicht
stärkt und aus der Vorahnung die Vorfreude treibt.
Oft ist es Alkohol, der sie spüren lässt, dass neben der
Angst tiefstes Glück der Vorahnung innewohnt. Können diese beiden Gefühle in
ihrer Widersprüchlichkeit Teile ein und derselben Empfindung sein? Ja, Angst
und Glück sind eng einander verschlungen zu einer einzigen explosiven
Gefühlsregung.
Eigentlich weicht sie der Kraft jener lieber aus. Diese
emotionale Symbiose erschöpft sie und die einzige tolerierbare Erschöpfung
entspringt der Arbeit. Doch diesmal scheint es als wäre sie unumgänglich, sie
kommt einfach nicht gegen dieses in ihr wuchernde Unkraut an, trotz eines sich
ständig verdichtenden Nebels praktischen Vernunftdenkens. Sie muss sich an die
Erschöpfung gewöhnen, beschämt von ihrer Kontrolllosigkeit.
Sie kann nicht mehr sagen, woher sie das Gefühl kennt, doch
muss es ihr schon vertraut sein, denn
sie ist zwar verärgert von seinem dreisten Heranwachsen, jedoch nicht
überrascht.
Ein Mensch, der wie sie diesem Gefühl, wie ein winziges
Gewächshaus eine wuchernde Pflanze, einen verhältnismäßigen kleinen Raum
bietet, wird Zeuge von etwas Spektakulärem, oft ohne es überhaupt zu erfassen.
Doch ist bieten wohl das falsche
Wort, entsteht dieses Gefühl unwillkürlich – gerade so wie ein von Lust und
Schmerz durchfluteter Traum – im Innersten der Seele.
Viele können es nicht fassen, da ihnen die Symbiose aus
Angst und Glück unverständlich ist, doch gerade in dieser ist die Intensität
begründet – zwei absolute Gefühle, gerade so wie zwei absolute Essenzen, die –
eigentlich aromatisch einander widersprechend – einander nähren. Dem Träger
wird eine aufregende Duftnote verliehen – aufregend in ihrer
Widersprüchlichkeit. Es kennen also wenige dieses Gefühl, doch bedeutet dies,
wie gesagt, nicht, dass sie es tatsächlich nicht verspüren, viel mehr glauben
sie es nicht zu kennen, weil sie es nicht erkennen – Glück und Angst so
kompromisslos und doch symbiotisch.
Kennt man es allerdings tatsächlich nicht, sollte man vor
einer kleinen Hilfestellung nicht zurückschrecken, denn dieses Gefühl ist
betrachtbar – und zwar in den Gemälden Marc Chagalls. Wer es in diesen Bildern
nicht zu erkennen vermag, ist nun gezwungen, nicht mehr weiterzulesen, denn
Vertrautheit und Akzeptanz diesem Gefühl gegenüber sind Voraussetzungen, um
dieses Buch erfassen zu können. Der Leser bleibt ansonsten verständnislos in
seiner feigen Schaulust, unterhalten von jenen, die sich ihm in dieser
Geschichte offenbaren.
Soeben öffnet sie das Fenster. Der Nebel verbirgt die
Außenwelt. Sie sieht ins Graue, doch dies stört sie nicht. Manchmal verlässt
sie unersättliche Ebene ihrer Wünsche, gerade so wie in diesem Moment, als ihr
ausreicht, was sie eben sehen kann. Und was sie sieht, ist so einfach, dabei ist
die Aussicht in der Realität so weit und komplex. Für diesen kurzen Moment
reicht ihr auch aus, zu fühlen, was sie eben fühlt, auch wenn ihre Gedanken
eigentlich so weit und komplex sind.
Als sie das Fenster wieder schließt, hält sie kurz inne, um
sich zu freuen, dass es solch Momente, wie jene gerade eben am Fenster gibt.
Und wenn sie schon dabei ist, sich zu freuen, freut sie sich auch gleich
darüber, dass jeden Morgen ihre Nase aus so einem hübschen Zimmer in die
Morgenluft strecken zu können. Sie verbietet sich, zu vergessen, all das, was
selbstverständlich scheint, zu schätzen. Darin sieht sie die Magie.
Die Kaffeemaschine röchelt, ihre Gedankenwelt beginnt sie
wieder zu drehen und sie denkt fälschlicherweise, in diesem Zustand wieder ganz
sie selbst zu sein – gerade so als stünde Sorglosigkeit im Gegensatz zu ihrer
Identität.
Sandra
Es wird Zeit, sie vorerst zu verlassen. Keine zwanzig
Minuten Fußweg entfährt blickt man durch die angelaufenen Scheiben eines
schmalen Fensters. Man sieht in ein Zimmer, das sich im dritten Stockwerk eines
unauffälligen Fachwerkhauses, dass sich brav wie ein uniformiertes Schulmädchen
in die Häuserreihe fügt, befindet.
Zwischen den Pflastersteinen der Gasse klebt Langeweile wie
eine zähe Flüssigkeit, die in die Spalten sickerte als Carlas und Michaels
Trennung, die letzte verbleibende Kommune zur Erinnerung werden ließ. In den
neunzehnsechziger und siebziger Jahren beherbergte beinahe jedes Haus dieser
Gasse ein Kommune, damals, als der Wunsch nach Freiheit und Friede die träge
Stadtluft erhitzte.
Als Carla ging, stellte sie den Kragen ihres Mantels auf, denn
sie spürte einen kalten Wind in ihrem Nacken. Bald artete der Wind zu einem
Sturm aus und in den nächsten Tagen zersprangen dutzende Blumentöpfe auf dem
rissigen Asphalt. Blüten zerfielen zu tausenden Blättern. In alle
Himmelsrichtung zerstreut, wehten sie aus der Gasse.
Der Wind verging nach einigen Tagen, doch die Kälte blieb.
Wer es vermag, mehr zu erkennen als er oberflächlich spürt, dem fröstelt es,
geht er die Gasse entlang, auch in der Hitze der Sommertage. So ergeht es auch
Sandra, in deren Zimmer wir soeben schauen – unbemerkt und ungeniert. Aber
selbst wenn Sandra uns bemerkte, unnötige Aufregung wären wir ihr nicht wert.
Sandra sieht gut aus, nichts Außergewöhnliches. Das ist auch
nicht notwendig, meinte zumindest Edgar, als sie in der Tür stand, ihre
entschlossene Hand ihm entgegenstreckend. Er nahm sie nicht, er nahm Sandra.
Bis zum heutigen Tag gab er ihr nie die Hand, berührte sie kein einziges Mal.
Als sie aus dem Haus wieder herauskam, hatte sie ihre erste
Anstellung seit sie in diese Stadt gekommen war. Es machte sie für kurze Zeit
merkwürdig zufrieden – Zufriedenheit ist in Sandras Leben ein seltener Gast,
ein beinahe inhaltslosloses Wort – ein Wort mit dem sie normalerweise nichts
Reales verbindet.
Sie zog sich ihren Pullover über, da es sie fröstelte und ging
langsam die Gasse entlang – in Richtung Victoria Park – in Richtung ihrer
Wohnung, die sie endlich zahlen könnte – zumindest eine Monatsmiete. Weiter zu
denken und zu hoffen, traute sie sich nicht. Nun zahlt sie bereits seit zwei
Jahren ihre Miete, immer den vollen Betrag, immer pünktlich.
Sandras Preisliste ist lang. Edgar hat sie präzise
gestaffelt, es zöge mehr Kunden an. „Es zieht mehr Kunden an“ sagte er, als sie
ihn damals skeptisch ansah, „oder eben aus.“ Wenn Edgar lacht, kann man alle
Zähne sehen. Die meisten glänzen golden, doch bei weitem nicht so edel wie die
Kette die Sandra, in dem Moment, als wir durch das Fenster blicken, umlegt.
Ralph betrachtet, auf dem Bett sitzend, ihren gebräunten
Rücken. „Woher die Narbe?“, fragt er Sandra, die nach einiger Herumspielerei
die Kette schloss, bedankt sich artig für das Geschenk.
„Ist eine schöne Kette“, sagt Sandra und lässt sich von
Ralph auf das Bett ziehen. Ihre Bewegungen sind intensiver und zugleich
passiver, als jene der anderen Mädchen. Das ist es, was ein Mann wie Ralph
möchte. Er hat stets das Gefühl, ihm geschieht zu viel. Zu viel sei nicht von
ihm geplant, beabsichtigt. Sandra kann ihm das Gefühl geben, das er im Alltag
vermisst.
Ralph ist Mitte dreißig. Er verabscheut zu altern, weil es
ihm geschieht, ist wütend, weil das Alter nicht seiner Entscheidung unterliegt.
Sandra hingegen ist froh über Männer Mitte dreißig und sie kann Ralph gut
leiden, weil es angenehm findet, die Unsicherheit anderer Menschen zu spüren.
Gerade eben spürt sie seine ganze Verunsicherung durch die Dominanz hindurch.
Als Ralph die Müdigkeit überkommt, will er, dass Sandra für
ihn tanzt, doch hat sie keine Lust und sagt es ihm auch. Es ist nicht gut,
alles zu tun, was ein Mann wünscht. Seiner Fantasie genug Raum zu lassen, ist
die eigentliche Kunst, die das Wiedersehen mit Spannung und Erwartung erfüllt.
Ein Prinzip, das natürlich nicht bei jedem funktioniert, aber Stunden bei
Sandra individualisiert, die Grundvoraussetzung einer fixen Kundschaft.
Carola
Die Frau mit der Freude am Alltäglichen und der aufregenden Gefühlssymbiose betritt in
dem Moment, als Sandra entscheidet, nicht für Ralph zu tanzen, die kleine
Buchhandlung am Broadway Market und erfreut sich am Geruch alte Bücher. Sie
möchte ein Geburtstagsgeschenk für ihre langjährige Freundin Claudia kaufen.
Sie holte sich am Weg hierher ein Thunfischsandwich, das sie nun in ihrer
Linken hält, während der rechte Zeigefinger die Buchrücken entlang fährt.
Thomas
Sie ist die einzige Kundin und Thomas, der von Dienstag bis
Freitag halbtags in der Buchhandlung arbeitet, folgt möglichst unauffällig
ihren Bewegungen, in der Hoffnung, dass das prallgefüllte Sandwich mit nichts
in Berührung kommt, nichts streift oder gar aus der kleinen Frauenhand fällt.
Vor seinem inneren Auge visualisiert sich die schreckliche Szene und er zuckt
unmerklich zusammen.
Was ein gutes Buch über Philosophie ist, möchte die Frau
wissen. Ihre Augen erinnern ihn an den Kettenanhänger, den seine Mutter an
einem Hochzeitstag bekam – hellbraun mit einem gelbgoldenen Glanz, den man nur
bei genauerem Hinsehen bemerkt. Er schüttelt seinen Kopf, beschämt, dass es ihm
nicht einmal absurd erscheint, beim Anblick schöner Frauenaugen, an seine
Mutter zu denken.
„Haben Sie nicht?“ „Oh, doch, doch – ich bitte um
Entschuldigung.“
Carola, also die Frau mit der Vorahnung, den kleinen Freuden
und dem Thunfischsandwich in der Linken, folgt Thomas, der sich in den
hintersten Winkel des kleine Geschäftslokals begibt und nach kurzem Zögern ein
Buch herauszeiht und es vor seine Brust hält, sodass der Titel lesbar ist –
jedoch nicht, ohne ihn selbst in langgezogenen Worten zu nennen. Er habe es auf
der Suche nach Texten zum Existenzialismus von dem Geschätsinhaber Boris empfohlen
bekommen. Boris empfahl ihm auch, die Titel auf bedeutungsschwere Weise dem
Kunden zu verkünden. Zu Beginn kam es Thomas lächerlich vor, nun fühlt es sich
ganz natürlich an.
Carola hat soeben einen Bissen gemacht und hält sich die
Hand vor den kauenden Mund. Thomas verharrt abwartend in seiner Pose. „Ist es
ein Bestseller? Ich meine – ist es bekannt?“, fragt Carola und schluckt den
zermalmten Bissen. „Bekannt? Nein, also – nicht besonders. Ist auch schon etwas
älter, aber ein gutes Buch, glaube ich.“ Bei der Kassa. „Ich muss gestehen,
nicht immer ganz verstanden zu haben, worauf die Existentialisten hinaus
wollen, damals, als ich es gelesen habe – also zu sagen, dass das Buch
verständlich und leicht zu lesen ist, wäre wohl nicht richtig.“ Carola lacht
und Thomas reicht ihr das Papiersäckchen mit dem Buch über den Tresen und
vergisst für einen Augenblick, wie er ist, dass Thomas, so wie er ihn kennt, in
solchen Situationen schüchtern und angespannt ist, bittet Carola sogar,
vorbeizuschauen und ihn aufzuklären, sobald sie das Buch zu Ende gelesen hat.
Den Existentialismus als Laie für einen anderen Laien
fassbar zu machen, bedarf mehr als eines Buchs und eines Gesprächs. Thomas, der
dem Existenzialismus nicht näher zu kommen scheint, weiß zumindest so viel über
diese Philosophie. Wieder ein Kopfschütteln, diesmal allerdings unmerklich –
bevor er so etwas Lächerliches so witzlos
von sich gibt, hätte er lieber gleich fragen sollen, wann er die Frau
mit dem goldleuchtenden Augen wieder sehen würde.
Carola hat jedoch ohnehin bloß eine Freundin, die Geburtstag
und einen Abschluss in Philosophie hat, und nicht die geringste Ahnung von
Existenzialismus, geschweige denn, wie lange es dauert ihn zumindest
ansatzweise verständlich zu machen. Sie weiß auch nichts über Thomas – dass sie
ihn eines Tages in ihr Innerstes vorzudringen lassen würde.
Im Moment spürt sie anscheinend noch keine hervorstechende
Sympathie, wäre dies der Fall, würde sie wohl nicht erwidern, dass es sich um
ein Geburtstagsgeschenk handelt, sie die Erbetung einer Erklärung jedoch gerne
weitergibt.
Hinter Carola fällt die Tür ins Schloss und das Windspiel
erklingt. Zurück lässt sie neben dreißig Euro einen roten Zwiebelring, der im
letzten Moment aus dem Sandwich rutschte und auf dem nun Thomas enttäuschter
Blick ruht.
Am Weg nachhause überkommt Thomas eine unangenehme
Müdigkeit, wobei das eigentlich Unangenehme die Gedanken sind, zu denen sie
unwillkürlich führt – Gedanken, die in Angst gipfeln. Sind diese Gedanken wahr
und berechtigt und er lässt sie aus Selbstschutz nicht zu, außer wenn er müde
ist? Unterdrückt seine Feigheit die Wahrheit oder ist sein müdes Ich ein
Erfinder, der sich an Skizzen und Plänen aus Thomas Kindheit bedient – nicht
weniger unsinnig als die Angst im Dunkel, jene Furcht vor den schmalen Schatten
an der Zimmerdecke?
Thomas geht schneller und schneller, so als könne er die
Gedanken abhängen, und doch bleiben es seine Gedanken. Oder doch nicht?
Kann er sich von ihnen ablösen? Thomas
glaubt nicht an das große Ich, an ein Individuum, das jenseits seiner Gedanken existieren
kann. Eigentlich ist es eine furchteinflösende Vorstellung, nicht mehr als die
eigenen Gedanken zu sein, sind sie in ihrer Individualität ja doch nur Produkte
äußerer Einflüsse und Prägungen. Thomas will kein Produkt sein.
Das einzige Produkt, das er sich vorstellen kann, zu sein,
ist das Produkt der Liebe, doch das ist er bestimmt nicht.
Thomas durchquert den Park hin zur Hauptstraße, von der er
schnell wieder abbiegt – hinein in das enge Gassenwerk, um den frühabendlichen
Lärm zu umgehen. Es ist warm und das Licht ist hellrot in einer seltsam grellen
Weise, sodass alles aus seinem Inneren heraus zu leuchten scheint. Thomas spürt
eine tiefe Verbundenheit, spaziert durch die Gassen ohne auf den Weg zu achten.
Ist es nicht ohnehin in Wirklichkeit egal, wann oder vielmehr ob er zuhause
ankommt? Die Frage erscheint unerwartet und bewirkt melancholische Ruhe.
Das Haus, das Thomas betritt ist unscheinbar und der einzige
Hinweis auf das sich darin befindende Etablissement sind die kleinen
geschwungenen Letter über dem schmalen Eingang, von denen rote Farbe blättert.
Weshalb Thomas – zuvor nie interessiert an einem derartigen Zeitvertreib – sich
entscheidet, hier einzutreten, muss erst einmal unbeantwortet bleiben, nicht
einmal Thomas in diesem Moment verständlich.
Er betrifft jedenfalls den engen Flur. Seine Bewegungen sind
zaghaft, lautlos geht er auf dem roten Teppichboden, der auch über die schmale
Treppe gelegt ist, dann jedoch einem dunklen Holzboden weicht. Auf diesem
werden Thomas Schritte plötzlich geräuschvoll. Wie ein ertapptes Kind
erschrickt er, um sich dann jedoch auf sein Vorhaben zu besinnen und eine in
seinen Augen entspannte Haltung einzunehmen. Aus einer der Türen streckt eine
junge Frau ihren Kopf. Sie hat das Gesicht einer Grundschülerin, ihre
Kulleraugen etwas überrascht auf ihn gerichtet. Sie wischt sich über de
kauenden Mund und schließt schnell wieder die Tür. Thomas – wieder alleine im
kleinen Vorraum, der eine bizarre Kombination aus Minibar und Rezeption ist –
setzt sich, nun noch verunsicherte und auf erbärmliche Weise peinlich berührt,
auf das rote Sofa aus Samt im barocken Stil. Doch schon öffnet sich wieder die
Türe, man hörte zischende Stimmen, doch versteht Thomas das Gesprochene nicht
und die junge Frau tritt heraus, sich, bemüht kokett anzumuten, auf dem kleinen
Hocker hinter dem Tresen platzierend.
Im Grunde liegt die Preisliste in einer Entfernung, die sie
ohne größere Mühe mit einem Arm überwinden könnte, doch steht sie auf, legt
einen Unterschenkel auf den Hocker und streckt sich mit vollem Körpereinsatz zu
dem foliierten Papier hinüber. „Zeitspanne und Extrawünsche angeben“, erklärt
das Mädchengesicht weniger anzüglich. Thomas nickt brav, kreuzt an und als er
ihr langsam den Zettel zuschiebt, sehen sich die beiden unschlüssig an. Thomas
begreift, dass die Knopfaugen abwartend auf ihn gerichtet waren. Was wird von
ihm erwartet?
„Na und bei wem?“, schnauzt das Mädchengesicht – und als er
nicht sofort antwortet: „Also hör Mal, Alle kannst du nicht haben. „Ist mir
egal“, fragt Thomas mehr, als zu antworten. „Also das kommt zwar sonst immer
zum Schluss, aber sag mir einmal ein Datum, dann schau ich welche Zeit hat.“ – Thomas
stutzig – „Kannst dann nach dem Termin auswählen.“ Termin? Thomas Termin muss
jetzt augenblicklich sein, zu jedem anderen würde er nie erscheinen, davon ist
er überzeugt. Verwunderung, aber die Kulleraugen durchforsten ein kleines
Notizbuch. Thomas darf zu einer Sandra, bei der ist einer ausgefallen.
Sandra
Danke Sandra, dass Thomas zu dir darf, der Zufall ihn zu dir
schickt.
Sandra öffnet die Tür und vor ihr steht Thomas und von
seinem unsicher vorgelehnten Stand bis zu den zusammengekniffenen Augen fleht
alles zu ihm Gehörige, sie möge ihm nichts tun.
Sandra
Doch auch Sandra hat einen Grund dankbar zu sein, auch wenn
sie ihn in diesem Moment kaum als solchen wahrnimmt. In dieser Woche trinkt sie
mehr, als in den letzten drei Monaten zusammen und geradeeben entschied sie,
sich eine Zigarette und ein wenig aus der Flasche, die sie zwischen Heizkörper
und Vorhang deponierte, als Thomas klopfte, zu gönnen.
Mit einer Hand schon auf der Türklinge richtet sie ihren
Blick für einen kurzen Moment gegen die Zimmerdecke und markiert zwei
Kreuzzeichen – eines, um ihre Dankbarkeit, von sündhaftem Verhalten abgehalten
geworden zu sein, eher vorzuheucheln, denn in Wirklichkeit empfindet sie alles
andere als Dankbarkeit für die unerwartete Störung. Das Zweite hingegen ist
eine Bitte, die Flasche möge nicht entdeckt werden. Wenn Edgar das erfährt, ist
sie draußen, das weiß sie und so stehen sie sich in der Zimmertür etwas gequält
gegenüber und sehen sich für einen Augenblick voller Verständnis und Mitgefühl
füreinander aus verängstigten Augen an.
Thomas
Sandra tritt einen Schritt zur Seite und Thomas in das
schmucklose Zimmer, das durch rote Stoffbahnen und Plastikdekor dilettantisch
zu etwas gemacht wurde, was es nie war und in Thomas Augen nie sein kann.
Sandra sieht jedoch gut aus. Thomas ist nicht hingerissen, doch das war noch
nie jemand von Sandra. Und es geschieht, was eben bei Sandra zu geschehen hat
und Thomas ist recht schnell ermüdet.
Wenig später – Thomas in einem Cafe, den Kopf gegen die Wand
gelehnt, den Hals reptilienhaft in die Länge gezogen. Er nippt an dem sauren
Kaffee und fühlt sich, so wie er in dieser Ecke sitzt, geistesabwesend und doch
die anderen Besucher beobachtend, intellektuell. Gerade jetzt, denkt er
amüsiert und beschämt zugleich.
Ihn überkommt große Lust zu rauchen und er fragt sich, worin
der Reiz des entzündeten Tabaks liegt – nein, viel mehr, worin der Reiz des
Ausführens der spezifischen Geste und der tiefen Atemzüge liegt, denn dies
begründet sein Verlangen nach einer Zigarette.
Thomas reibt sich über sein Gesicht. Genau solche
Überlegungen machen ihn zu einem stillen, zurückhaltenden Langweiler – dieses
ständige Hinterfragen: Weshalb dies und jenes wollen? Dorthin gehen? Mit ihm
oder ihr sprechen? Erneut fühlt sich Thomas von seinen Gedanken bestraft und
bleibt doch rational. Niemand pflanzt sie ihm ein. Sie sind Produkte
biochemischer Zusammensetzung und unzähliger Umwelteinflüsse – wie Pflanzen und
er war der Gärtner – existenzlos ohne den wuchernden Garten. Bei wem kann er
sich beschweren, vertrocknen die feinen Triebe im Schatten des Unkrauts?
Carola
Carola langweilt sich bei der Geburtstagsfeier so sehr, dass
ihr von der ungeheuren Langeweile übel wird und sie in Erwägung zieht, sich der
ekelhaften Erdbeertorte zu entledigen, doch macht allein schon der – eigentlich
erleichternde – Gedanke daran müde. Lieber provoziert sie die Übelkeit – treibt
sie gnadenlos an die Spitze. Wassriger Prosecco – unauffällig mischt Carola ihn
mit Weißwein. Bewaffnet mit zwei Gläsern, gesellt sie sich zu einer Gruppe
leicht bekleideter Frauen. Auch Carolas Kleid ist eher präzise zugeschnitten – zumindest
so viel verdeckend, dass man sich in der Öffentlichkeit ohne gröberer
Zwischenfälle bewegen kann. Kurz bevor sie ankam, unterschied ein
Motorradfahrer jedoch nicht mehr zwischen Straße und Gehsteig, fuhr knapp
hinter Carola her. Sie warf ihre Haare aus ihrem Nacken ach vorne und schon
fuhr er wieder artig auf der Straße.
Carolas Rücken wird noch eine Rolle spielen, doch ist es nun
noch zu früh, ihm Aufmerksamkeit zu schenken. Man sollte erst über ihn Bescheid
wissen, wenn man Carola näher kennenlernt hat, um erst gar nicht auf die Idee
zu kommen, ihn wie eine bedeutende Charaktereigenschaft, eng mit ihrer Person
verbunden im Gedächtnis zu behalten.
Thomas
Zwölf Uhr Mittag. Ein leichter Regen durchbrach soeben noch
die Sommerhitze. Nun ist es jedoch wieder unerträglich heiß.
Thomas – nun, da er bereits vier Mal bei Sandra war, im
Gefühl, eine Doppelexistenz zu leben – sitzt, dem Schweiß an seinen Schläfen
trotzend, auf einem Klappstuhl vor seinem Haus. Es ist nicht sein Haus, aber er
hat sein adäquates Zimmer mit Küche und winzigem Bad im Erdgeschoß. Er liest
eine Biografie über Sigmund Freud. Er ist unruhig. Den freien Tag mit lesen zu
verbringen war von vornherein mehr ein Vorhaben, als ein tatsächlicher Wunsch.
Andauernd verspürt er entweder Hunger oder Durst oder Harndrang oder Schweiß, der
droht, in seine Augen zu tropfen. Wieso gelingt es ihm nicht, Momente der
Entspannung zu nutzen, sie auszukosten?
Alle Bedürfnisse soweit gestillt, drohen Thomas Augen
zuzufallen. In diesem Moment legt sich ein Schatten über die aufgeschlagene
Seite. Thomas sieht in die glänzenden Augen Carolas.
Carola – eigentlich am Weg zur Arbeit, eigentlich ohnehin zu
spät dran – und Thomas – eigentlich gerade dabei, einzuschlafen – führen ein
grauenhaft verlegenes Gespräch, welches zusätzlich in seiner Natürlichkeit eingeschränkt
wird, da Thomas sitzt, während Carola vor ihm steht. Das Gegenlicht bereitet ihm
Schwierigkeiten. Er blinzelt in einem fort.
Thomas erfährt, dass Carola in der Gegend wohnt und sie
wundern sich, einander nie begegnet zu sein, da beide gerne in unmittelbarer
Umgebung spazieren gehen. Carola erfährt, dass Thomas nicht nur gerne spazieren
geht, sondern auch gerne liest. Carola gibt sich interessiert, obwohl Thomas
Beruf diese Vorliebe nahelegt. Heute mache er einen Lesetag, er habe schon
lange keinen Tag mehr frei gehabt.
Stille. Nachzudenken fiele bei einem Spaziergang einfach
leichter. Thomas geht erneut auf das gemeinsame Interesse ein und bemerkt im
selben Augenblick, dass er beim Spazierengehen nie nennenswerte Gedanken fasst.
Wieso sagt man, wenn man neue Bekanntschaften macht Dinge, die nicht auf einen
zutreffen? Gerade so, als bediene man sich man sich eines Repertoires an
Aussagen, die auf viele zutrafen und mit denen man erwartet auf Verständnis und
Zuspruch zu stoßen – die Erschaffung von Gemeinsamkeiten, die so nicht
bestanden.
Carola blickt die Straße hinunter. „Das habe ich immer von
Spaziergängen erwartet – dass sie mich auf andere Gedanken bringen. Irgendwann
habe ich verstanden, wenn ein Spaziergang überhaupt zu etwas dient – dann wahrscheinlich
dazu, nicht nachzudenken.“
„Und das ist möglich?“ Thomas schmunzelt ein wenig arrogant,
ohne dies zu beabsichtigen. Sandra wendet sich wieder zu ihm hin und sieht ihn
fragend an. „Was?“ Thomas Buch rutscht von seinem Schoß und unbeholfen – gerade
so als diene diese Geste als Ausdruck seiner ganzen Verlegenheit – bückt er
sich danach. Carolas Blick folgt ihm. „Naja – nicht nachzudenken – ich meine,
ist das möglich?“ Carola ohne Zögern – er ist wohl nicht der Erste, der sie das
fragt: „Es dauert natürlich nur ganz kurz – gerade so lange, bis man sich dabei
ertappt.“ Beide sehen nickend in entgegengesetzte Richtungen die Straße hinab.
Nun eine solange Stille bis Carolas Räuspern den Aufbruch
ankündigt. „Also dann.“ „Gut dann.“ „Einen schönen Lesetag.“, fällt Carola
glücklicherweise noch etwas ein wenig Persönlicheres ein. „Danke. Man sieht
sich das nächste Mal, wenn die Gedanken Hausarrest bekommen.“, hakt Thomas ein
und Carola, die schon einige Schritte entfernt ist, schenkt ihm ein
erleichtertes Lächeln. Und wie im Buchgeschäft bewirken ihre hochgezogene
Mundwinkel und die Tatsache, dass er sie in wenigen Sekunden nicht mehr sehen
würde, Thomas Wissensverlust darüber, wer er eigentlich war. Er fragt, in
welcher Straße sie denn wohnt, für den Fall, dass er mit seinen Gedanken Gassi
geht, denn so fühlt sich ein Spaziergang für Thomas an. Carola lacht, sagt
neben der Straße auch die Hausnummer.
Thomas sieht ihr nach und freut sich für wenige Sekunden,
bevor ihm die erste Frage aufkommt: Gab sie ihre genaue Adresse nur aus
Höflichkeit an? Oder war sie einfach nur überrumpelt gewesen? Andererseits hat
er sie nicht nach ihrer genauen Adresse gefragt, das war allein ihre
Entscheidung. Oder hat sie die Hausnummer bloß in der Automatik, wenn man seine
Adresse nennt, beigefügt? Das könnte sein. Thomas nennt nicht selten seine
Heimatsstadt, gibt er seine Adresse an, auch wenn es oft logisch ist, um welche
Stadt es sich handelt.
Thomas liest im Laufe des Nachmittags ohne Unterbrechung
beinahe das halbe Buch und mit jeder Seite wächst die Entschlossenheit, dass
ihre Hausnummer zu nennen, einer Einladung gleicht, die er anzunehmen hat. Er
wird bei ihr vorbeischauen, doch mit welchen Worten? Er muss sich etwas
Vertretbares zurechtlegen.
„Hallo.“ Sie hat aufgemacht – ohne Thunfischsandwich, ohne
Stressflecken, kein gerötetes Gesicht von zu hastigen Bewegungen in der
Mittagshitze. Carola sieht schön aus, jugendlicher und zarter. Wie kann, das
Untergehen der Sonne – ein beachtliche und doch naturwissenschaftlich begründbares
Phänomen – einem Frauengesicht derart schmeicheln? Carolas Müdigkeit bleibt hinter
der Röte der Dämmerung verborgen, Thomas sieht nur die Carola seiner
Vorstellung. Das Bild, das er in diesem Moment von ihr erhält, wird er für
immer mit ihr in seinem Gedächtnis verbinden – immer wieder restauriert in
seinem Glanz und vergoldet von der Nostalgie.
Thomas versucht sich zu sammeln. Sein einziges Vorhaben ist
es, einmal nicht etwas zu sagen, das ohne jeglichen Realitätsbezug aus ihm
herausschnellt. „Ich wollte, bei dir vorbeischauen, obwohl ich nicht Spazieren
war.“ Kein „Ich war gerade in der Gasse“, kein beiläufiger Tonfall – zufrieden
belässt es Thomas bei der Wahrheit.
Und auch Carola ist nun in gewisser Weise die Möglichkeit
genommen, zugunsten der Bequemlichkeit, von der Realität abzuweichen. Thomas
erschwert ihr, eine Frage zu stellen, die das Gespräch in Gang bringen würde.
Betretene Stille erfüllt die Dämmerung und die beiden stehen sich ehrlich und zugleich
zutiefst peinlich berührt gegenüber.
„Das ist eine gute Idee gewesen.“ Erleichterung auf beiden
Seiten – Carola ist die ehrlichste Antwort eingefallen. Von irgendwoher hört
man ein schreiendes Kind. Ein Mann mit einem Hund – kurz gehalten an der Leine
– schiebt sich absichtlich mühevoll an Thomas vorbei, der mitten am Gehsteig
steht, festgefroren in einer Pose, die Nervosität signalisiert.
Glücklicherweise schiebt sich der Mann vorbei, denn sind sie
nicht ohnehin schon nach Erlösung bettelnd, lenkt dies noch einmal mehr die
Aufmerksamkeit auf Thomas Pose und Position. Nun ist Carola beinahe gezwungen,
ihn herein zu beten.
Augenblicklich verdeutlicht sie, dass ihrerseits kein
sexuelles Interesse besteht, indem sie Thomas Tee und Salzgebäck anbietet –
zumindest glaubt Thomas daraus ablesen zu können, welche Rolle er als Gast
einnimmt.
Ralph
„Du hast was?“ Ralph sieht Thomas mit hochgezogenen Brauen
irritiert an, wobei er in Wahrheit wohl kaum verwundert ist, er kennt die
gestörte – oder vielmehr nicht vorhandene – Beziehung seines Freundes zum
anderen Geschlecht. Vielmehr verwundert ihn, Thomas Erscheinen vor der Tür
einer Frau, ohne stumpfsinnige Ausreden im Gepäck. Doch fühlt Ralph sich
verpflichtet seine Irritation, nachdem Thomas erzählt, dass er der Frau vorlas,
anstatt zu tun, was in seiner Vorstellung von ihm erwartet wurde, erkenntlich
zu machen. Unbewusst freut es Thomas bestimmt, Verwunderung in Ralphs
Gesichtsausdruck zu erkennen. Wie demütigend wäre die ehrliche Reaktion, eine
Reaktion, in der Ralph offenbarte, nichts anderes von ihm erwartet zu haben als
eine Lesung – abends im Wohnzimmer einer Frau.
Sandra
Sandra in einem Meer aus grauen Federn – auf der Flucht. Die
Federn bieten zu wenig halt – immer wieder der Versuch, sich aufzurichten. Sie
gewinnt ein wenig halt – endlich – doch da werden alle Federn zu Geldscheinen.
Sandra sieht in die weit aufgerissenen Augen der Gesichter, all jener, die auf
den Scheinen verewigt sind. Die Übelkeit drückt verzweifelte Tränen aus ihren
Augen. In ihren Händen ein Messer – mit zehn Stichen tötet sich Sandra und ihr
Blut und ihre Tränen weichen die Geldscheine auf, waschen die Farbe vom Papier
und Sandras regloser Körper wird in den verschiedensten Grüntönen eingefärbt.
Thomas
Thomas im Badezimmer. Sein Gesicht im Spiegel, grünlich von
den schmalen Neonröhren, die über dem kleinen Spiegel in das Wandkästchen
integriert sind.
Der Mann, den er heute Abend im Spiegel sieht, ist ein
anderer, als der gestrige. Das ist Thomas von jeher wichtig. Er ist jeden Tag
jemand anderer, neu, unschuldig. Er weiß, dass darin die Kunst liegt, nicht
darin, eine gefestigte, individuelle Identität vorweisen zu können. Sie ist ein
ohnehin Mythos – nach und nach religiöse Dimensionen annehmend. Finde dich!
Finde deine Identität! Ist das nicht ein Widerspruch in sich? Thomas braucht
den Individualismus und die allein gültige Identität nicht als Ersatzreligion.
Ihm ist es lieber, die Bibel zu lesen, als die heuchlerische Ratgeberliteratur
von heute. Das Alte Testament ist wenigsten unterhaltsam.
So viel zu Thomas Ideal.
Thomas wenig später an der Bushaltestelle. Zwei Stationen
bis zu Sandra. Thomas fühlt sich beobachtet, dabei kann unmöglich jemand
erahnen, wohin er fährt. Er hat ohnehin eher das Gefühl, unterwegs zu einem
Volkshochschulkurs zu sein, verspürt die dringende Notwendigkeit zu üben. Er
muss Sicherheit gewinnen – doch wieso denkt er überhaupt so weit? Kann er einfach
so annehmen, dass Carola mit ihm schlafen möchte?
Carola
Als Carola Simon zum ersten Mal um Hilfe beim Drucken
einiger Unterlagen bat, beeindruckte sie die Art und Weise, mit der erfahrene
Kollege das Druckproblem ausfindig machte, derartig, dass seitdem kein
Arbeitstag verstreicht, an dem Carola nicht einen Grund findet, früher oder
später vor Simons Schreibtisch zu stehen. Langsam ist ihre Kreativität
ausgeschöpft. Die einzige Möglichkeit, die sie wahrnimmt, ist weiterhin täglich
aufzutauchen, nur mit immer unkreativeren, immer absurderen Gründen.
Solche Situationen machen Carola die Absurdität des Daseins
besonders bewusst. Gerade dann, wenn das Leben ein wenig Spannung für sie
bereithält, erkennt sie die Bedeutungslosigkeit der jeweiligen Situation. Hin
und hergerissen zwischen der Leichtigkeit unglaublicher Gleichgültigkeit und
der Schwere des Gedankens, ihr Schicksal – zumindest Simon betreffend – ein
Stück weit in den eigenen Händen zu halten, fühlt sie intensiv beide Extreme –
ein ständiger Wechsel – sie hebt ab und fällt. Zurück in die Realität? Was ist
real? Die Bedeutung der Situation oder ihre Bedeutungslosigkeit?
Sie kommt zu dem Schluss, dass wohl nur jenem Bedeutung
innewohnt, das zutiefst verletzt oder glücklich macht, auch wenn es sich nur um
einen kurzen Moment handelt.
Simon täglich an seinem Schreibtisch einen Besuch
abzustatten, macht Carola schon lange nicht mehr glücklich. Es handelt sich
vielmehr um eine Routine – in gewisser Weise verbunden mit einem äußerst
bescheidenen Genuss – im Grunde vergleichbar zur täglichen Nahrungszufuhr. Wie
Essen ist es eine Notwendigkeit in Carolas Alltag geworden. Macht es sie auch
nicht glücklich, dann zumindest zufriedener. Ist ein wenig Zufriedenheit diese
tägliche peinlich versteckte offensichtliche Kundgebung ihres Interesses wert?
Thomas und Ralph
„Wird es jemals die Situation geben, in der man sich nicht
fragt, ob ihr Sinn oder viel mehr Bedeutung innewohnt?“
„Ich frage mich das des Öfteren nicht.“
„Wenn man negative Gefühle hegt, ist es keine Kunst, mit
positiven Gefühlen jedoch kommt zwingend auch die existentielle
Verunsicherung.“
„Bei dir?“
„Ja, bei mir.“
„Du redest immer als wäre ein jeder betroffen, wenn du von
dir erzählst.“
„Kannst du mit Sicherheit behaupten, dass ich nichts
allgemein Gültiges ausspreche?“
„Natürlich!“
„Natürlich nicht. Man kann
sich nie sicher sein. Was ist richtig? Was falsch?“
„Am wenigsten weiß man über sich selber.“
„Wo hast du denn den Schwachsinn her?“
Thomas und Ralph verlassen das Cafe.
Sandra
„Du machst mich fertig Ralph.“ Ralph sitzt auf der
Bettkante, noch immer nackt und Sandra in voller Montur vor ihm. Dieses Wort
scheint wirklich am angebrachtesten, um Sandras Kleidung zu beschreiben. Sie im
Detail widerzugeben, ist überflüssig. Es handelt sich um ein unglaublich
aufwendiges Dessous. Ralph hat es so am liebsten. Sandra fühlt sich wie ein
Luster. Er sieht auf ihren Nabel, nicht in ihr Gesicht. Sandra mag Augenkontakt
ohnehin nicht sonderlich und Ralph spricht ohnehin in Wirklichkeit nicht mit
ihr.
„Ich kann deinem philosophischen Gerede doch so und so nicht
folgen und das weißt du genau.“, sagt Sandra streng, die Arme in ihre Seiten
gestützt, obwohl sie sehr wohl folgen kann, denn sie weiß, es würde ihm ein
gutes Gefühl geben. Das Wissen darüber, dass seine Gedanken zu hoch für die
Allgemeinheit waren, ist so befriedigend, dass er auf das Gefühl verstanden zu
werden gerne zu verzichten scheint – zufrieden in der Annahme, dass er in
seiner Gedankenwelt einsam war, ein Emerit in der komplexen Wüste der Erkenntnis. Das fehlende
Verständnis der Außenwelt war bedeutungsschwerste Facette seiner Identität.
„Es tut mir ja leid.“, seufzt Ralph, obwohl es ihm kein bisschen
leid tut. Er zieht Sandra zu sich aufs Bett. Ralph zieht jedes Goldkettchen der
Träger einzeln von Sandras Schultern. Sie lässt es regungslos geschehen, gibt
ihm das Gefühl sie allein mit seiner Dominanz wieder für sich gewinnen zu
müssen. Alles unterliegt seiner Entscheidung.
Dies ist einer der Gründe, weshalb Ralph so leidenschaftlich
nachdenkt. Seine Gedanken hat er im Griff, weitaus mehr als sein Schicksal –
zumindest glaubt er das gerne.
Ralph entschuldigt sich erneut, nun Sandras gebräunte Schultern
küssend. Von der Straße hört man eine Gruppe wild durcheinander redender alter
Frauen. Die Stimmen klingen alt und heiser, besonders jetzt, da sie erschöpft
von dem Gesang in der Messe sind. „Es tut mir ja leid, aber ich habe Carola
wieder gesehen. Wäre das nicht passiert, hätte ich sie nicht wiedergesehen –
ich redete nicht so.“ Er wird richtig dramatisch, die Sprache deutlich und
gequält. „Jämmerlich, ich weiß, einfach lächerlich.“ Er findet es ganz und gar
nicht lächerlich. „Aber Carola zu sehen, hat mich zum Nachdenken gebracht.“
„Alles bringt dich zum Nachdenken, Ralph.“ „Nein, wirklich.
Ich habe an die Zeit mit ihr zurückgedacht und-“ „Ralph, hör doch auf damit. Du
weißt doch genau, dass im Nachhinein alles immer viel schöner erscheint.“ „Nein,
das war es nicht. Überhaupt nicht.“
„Meine Gedanken, nachdem ich sie sah, gingen in eine
vollkommen andere Richtung.“ „Ach ja?“ Sie fährt mit ihrer Hand seine Lende
entlang. „Du machst mich richtig neugierig“, lügt Sandra und beugt ihren
entblößten Oberkörper vorne über. „Ich dachte mir“, Ralph wendet sich abrupt
von ihr ab: „Ich dachte mir, es nie mit ihr erlebt zu haben – das Glück. Den
Moment, in dem alle Gedankenebenen zu einer verschmelzen und der Mensch einfach
erlebt.“ „Bist du bereit, zu erfahren, wie es ist, im Moment zu leben?“, bemüht
sich Sandra, den eigentlichen Pflichten nachzugehen, kommt jedoch nicht an
gegen die Mischung aus Melancholie und Hoffnungslosigkeit, die Ralph nun ganz
einnimmt.
Er beschließt sich nun besser zu betrinken als bedeutungslosen
Sex zu haben. Sandra wirft einen kurzen Blick aus dem Fenster und sieht Ralph,
mit den Händen tief in den Taschen und gerundetem Rücken, die Gasse hinab
eilend.
Thomas
Wenn Thomas Witze macht, ist es ihm nicht immer Recht, wenn
Gelächter folgt. Es gibt Witze, die keine derartige Reaktion verlangen. Den
Witz empfindet er als durchaus schwierige Angelegenheit bei Rendezvous, von
denen er zwar erst ein paar wenige vorzuweisen hat, doch genug, um dies
verallgemeinern zu können. Bei jedem noch so belanglosen Witz, reagiert das
Gegenüber mit Gelächter, denkt, es muss ihm mit einem schallenden Lachen oder –
und hiermit kann Thomas besonders wenig anfangen – kindischen Kichern, ein
Gefühl der Wertschätzung übermitteln.
So zögert er, als ihm ein kleiner Scherz im Gespräch mit
Carola in den Sinn kommt und er versucht sie sicherheitshalber erst einmal
einzuschätzen.
Er sieht in ihre Augen, im künstlichen Licht des Restaurants
wirkt es, als wäre der goldene Glanz in die Furchen der dunkelbraunen Pupille
gesickert, als wären winzige Grate auf der glatten Oberfläche. Ihre Lippe ist
leicht geöffnet. Thomas mag die Farbe. Das Zartrosa erinnert ihn an baumwollene
Sommernachthemden, an dünne Wäscheleinen mit Kluppen befestigt – Bilder seiner
Kindheit. Besonders gefällt ihm jedoch
der Spalt – die winzige Öffnung zwischen Ober- und Unterlippe, selbst wenn sie
den Mund geschlossen hält.
Er lässt den Witz so unauffällig wie möglich fallen – der
aufrichtige Wunsch, dass Carola diese winzige Probe besteht. Kein Lachen –
Carola spricht unbeirrt weiter. Thomas ist entzückt – kein anderes Wort
beschreibt diese frische, jugendliche Zuneigung. Er genießt Vertrautheit, die
er so bei derart neuen Bekanntschaften bisher nicht erfuhr.
Carola
Doch wie kommt es dazu, dass auch Carola, die seit Ralph
einen emotionalen Rückzug aus der realen Liebeswelt zu verspüren meint und die
weitaus sicherer anmutende, da in jedem Fall unerfüllte Zuneigung zu Simon als
einzige Möglichkeit, ein wenig Befriedigung zu finden, glaubt, zu Thomas
findet?
Wenn es um das Verlieben geht, kann man möglicherweise im
Groben zwei Typen voneinander unterscheiden – jene, die zurückschrecken, sobald
jemand ihnen seine Zuneigung offenbart und
jene, die sich verlieben, gerade weil jemand ihnen seine Zuneigung
offenbart. Thomas trifft auf Carola als sie nach langer Zeit bereit ist, sich
aus dem Rückzug ins Irreale, in die Fantasie, den Komfort der unerfüllten
Liebe, wieder in die Offensive zu trauen – nämlich in jene Offensive, die auch
als solche etwas zu bewirken vermag. Der Gedanke, dass Thomas ehrlich an ihr
interessiert ist, imponiert der geschwächten und doch langsam wieder an Mut
gewinnenden Persönlichkeit zutiefst.
Sandra
Jene, die zurückschrecken vor der Zuneigung eines anderen,
haben mit einem weitaus unerfüllten, komplizierten Liebesleben zu kämpfen,
finden in der Angst immer wieder Bestätigung für ihr Handeln. Doch Angst wovor?
Sandra ist in ihrem Beruf daran gewöhnt, dass Männer mit
bestimmten Vorstellungen zu ihr kommen und ihr die Aufgabe zukommt, Ideen und
Träumen gerecht zu werden und sie doch nicht ganz zu erfüllen, um der Fantasie
ihren Raum zu lassen.
Im realen Leben empfindet Sandra jedoch für sie aufkeimendes
Interesse in einem Mann als Last. Wieder glaubt sie Zuneigung auf Vorstellungen
und Erwartungen gebaut, nur, dass sie der privaten Sandra nicht zutraut, diese
erfüllen zu können. Über diese Einschränkung weiß Sandra natürlich nicht
Bescheid. Sie glaubt selbst, dass einfach stets auf einer Seite früher oder
später das Interesse verloren geht – nicht selten auf ihrer und sie müsse dann
den Kontakt abbrechen, um niemanden hinzuhalten, der schlussendlich enttäuscht
wird. Sie ist verhält sich hierbei nicht viel anders, als würde sie einen
Friseurtermin absagen – kühl und ohne Reue.
Sandra
Das Geld nicht glücklich macht, sagen nur die mit Geld.
Sandra stößt trotzig den Rauch in den Nachthimmel. Ralphs Hand ruht fremd auf
ihrem nackten Hintern.
Thomas
Es muss zu diesem Tag kommen. Womit hat Thomas gerechnet? Es
muss zu diesem Tag kommen, doch war Thomas sanft mit sich selbst, stand sich
die Unabwendbarkeit nicht ein.
Carola an der Straßenecke – er sieht sie von weitem. Thomas
weiß, dass es der heutige Abend ist,
möchte sich umdrehen und gehen – ein Buch und die Reste vom Mittagsessen warten
geduldig auf ihn, anspruchslos und vertraut. Wieso tut er sich einen solchen
Stress an?
Hatte er in den letzten Tagen noch das Gefühl, seine Triebe
nicht mehr unter Kontrolle bringen zu können, ziehen sie sich nun alle im
Anbetracht einer realen Befriedigung feige zurück. Im Garten seiner Gefühle
vertrockneten alle Triebe, die seit dem ersten Zusammentreffen mit Carola
sprossen.
Vielleicht liegt es nicht an ihm, sondern an Carola. Sie war
schön, bestimmt, war sie das – aber möglicherweise nicht erotisch genug. Da
könnte es durchaus sein.
Zur Begrüßung eine kurze aber feste Umarmung. Wie feige kann
man sein? Ralph würde ihn nun eine herunterhauen, ihn fragen, ob er noch bei
Trost sei, eine Frau wie sie für seine Feigheit zur Verantwortung zu ziehen,
Makel an ihr zu suchen, um eine Entschuldigung zu finden. Beschämend – dabei
war er noch einige Male bei Sandra. Sandra meinte schlussendlich sogar, mit ihm
ließe sich nun durchaus arbeiten.
Ralph
Auf seiner Suche nach dem unhinterfragten Moment des Glücks
wird Ralph nicht nur stetig unglücklicher, sondern investiert darüber hinaus
entschieden zu viel Geld in Alkohol.
Thomas
Als Thomas sich erschöpft auf die freie Seite des Betts
rollt, spürt er sogleich wie Carolas Kopf erwartungsvoll auf seiner Brust
liegt. Sie sprechen ein wenig, doch Thomas wird das Gefühl nicht los, alleine
sein zu müssen – am besten so schnell wie irgend möglich. Trotz Gewissensbisse
startet er einen ersten Versuch. Er müsse morgen wirklich früh raus. „Wie
früh?“ Carolas Augen in der Dunkelheit – Thomas sieht sie nur schemenhaft.
„Sehr früh, wirklich – sehr früh.“
Carola versteht und geht. Und Thomas bleibt liegen, hört die
Tür ins Schloss fallen. Sein Handy klingelt. „Weißt du was das Beste – beinahe
großartig – am Tod und der Sinnlosigkeit des Daseins ist?“ Thomas Augen fallen
beinahe zu und er drückt seine Frage in einem monotonen Laut aus. Ralphs
Aufregung ist vom Alkohol gelähmt, zu einer trägen, oberflächlichen Begeisterung
gemildert. „Dass der Mensch eine viel zu eingeschränkte Wahrnehmung, eine zu
dilettantische Vorstellungsfähigkeit besitzt, um beides in seiner
Unumgänglichkeit als Teile seines Schicksals zu akzeptieren. Er weigert sich zu
verstehen – aus Selbstschutz hält er sein Bewusstsein klein, verstehst du?
Verstehst du, was ich meine, Thomas?“ Thomas gähnt. „Und wie kommt es dann
dazu, dass du die grässlichste Angst vor dem Tod hast?“
„Gute Frage, Thomas, wirklich gute Frage – ist mir auch
gekommen. Im Grunde ist es einfach. In Wirklichkeit sehne ich mich nach dem
Tod, doch finde ich diese Sehnsucht so abstoßend und fühle mich so
unberechtigt, dass ich mich auf die andere Seite schlage, auf die Seite, mit
der die Gesellschaft zurechtkommt. Doch in Wirklichkeit, Thomas – in
Wirklichkeit bin ich mir der Unumgänglichkeit der Sinnlosigkeit viel zu
bewusst, um damit leben zu können.“
Eine lange Pause – Thomas glaubt Ralphs Schlucke zu hören.
Er möchte sich einfach verabschieden, doch Ralph setzt erneut an, etwas
ruhiger, ohne jeglicher düsterer Melancholie: „Überhaupt möchte ich selbst
entscheiden, wann es mit mir zu Ende geht. Ich bin kein Ofer des Schicksals,
des Zufalls – verstehst du mich? Verstehst du mich, Thomas?“ Ein merkwürdig
dumpfes Geräusch. Das Handy fiel ins Glas.
Carola und Thomas
Carola und Thomas auf einer kleinen Holzbank vor einem
hippen Bistro. In dem Bistro junge gutaussehende Paare. Ein jeder hält ein
hauchdünn geblasenes Weinglas und nippt gelegentlich daran. Die Lippen der
Frauen gespitzt – der Lippenstift könnte in Mitleidenschaft gezogen werden.
Die beiden Rauchen lange, tiefe Züge, passend zur
nachdenklichen Atmosphäre eines Sonntagabends, dessen Temperaturen den nahenden
Herbst erahnen lassen.
„Ralph hat gestern angerufen.“ „Wer ist Ralph?“ „Nur ein
langjähriger Freund.“ Das einzige Licht kommt aus dem großen Fenster des
Bistros, an dem Thomas und Carola lehnen. Die Straßenlaterne direkt vor der
Bank ist ausgefallen. Thomas bemerkt die Anspannung in Carolas Zügen nicht.
Während er spricht, durchfährt er das
schwarze Haar auf ihrem Hinterkopf.
„Ralph glaubt, dass unser Vorstellungsvermögen zu
eingeschränkt ist, um die Dimension von Sinnlosigkeit und Tod zu erfassen –
dass wir aus Selbstschütz als sinnbefreite Leben nicht als solches erkennen –
gar nicht in seiner Bedeutungslosigkeit erkennen können.“ „Bedeutung und Sinn
sind zwei Paar Schuhe. Es ist ein Fehler, sie synonym zu verwenden.“ Stille.
Das Klicken des Feuerzeugs – kurz erhellt die Flamme Carolas
Gesicht. Thomas beobachtet ein junges Paar, das auf der anderen Straßenseite in
ein Auto steigt. „Glaubst du ihm?“, fragt Carola kühl. Thomas stellt dieselbe
Frage, ohne ihr zu antworten: „Sind wir zu feige, um die Wahrheit zu
akzeptieren?“ So wie er sich an Carola richtet, könnte man meinen, er glaube,
sie könnte die einzig richtige Antwort auf seine Frage geben. Wahrscheinlich
hofft er das tatsächlich, klein und verunsichert von Ralphs klingenden Worten.
„Ich glaube, dass dieser Ralph ein feiger Pessimist ist. Zu
denken, es gäbe eine einzige große, zutiefst erschreckende Wahrheit – zu
grausam, um sie zu begreifen, ist einfach, viel zu einfach.“ „Und wer es sich
zu einfach macht, ist feige.“, ergänzt Thomas und küsst erleichtert – zumindest
darüber erleichtert, dass Carola Ralph nicht recht gab – denn kühlen
Handrücken.
Doch gibt er sich noch nicht zufrieden. „Glaubst du an den
Sinn?“ Der hoffnungsvolle Glanz seiner Augen in der Dunkelheit. „Nein, nein ich
glaube nicht an den Sinn.“ Eine qualvolle Pause. „Aber daran, dass etwas
bedeutend sein kann und ich gehe soweit zu behaupten, dass wenn irgendetwas und
irgendjemanden Bedeutung innewohnt, dann nur unter der Voraussetzung unserer
Sterblichkeit. Der Fehler ist wohl zu glauben, dass die Bedeutung trotz dem Tod
besteht. Viel mehr besteht sie Dank des Todes.“ Die Worte hallen nach. Doch
Carola hat nicht zu Ende gesprochen, sie denkt nach.
„Viele fürchten den Tod – wozu? – Sie habe ihre Gründe. Doch
einige fürchten nicht den Tod an sich – vielmehr fürchten sie, dass er nicht
ihrer Entscheidung unterliegt. Diese Menschen sind bloß feige.“
Thomas nickt. Carola hat in den letzten Minuten mehr gesagt,
als je zuvor und er kann noch nicht sagen, welchen Ansichten er zustimmen kann
– ob er überhaupt irgendetwas davon zustimmt. Aber er fühlt sich sehr wohl – in
der Gegenwart eines Menschen, der so überzeugt spricht, ohne ihn schlagartig so
zu desillusionieren, wie es Ralph tat.
„Deswegen meint Ralph, sich töten zu müssen – um selbst zu
entscheiden.“ Carola lacht auf – nicht laut – mehr ein stilles Lachen, dass
nach Vertrautheit klingt. Thomas ist nicht verwundert über Carolas sorglose
Reaktion. Vielleicht weil er selbst keine Sorge um Ralph verspürt, weiß er
doch, dass sein Freund Mann der Gedanken, jedoch niemals der Taten ist. Und
doch betrachtet er für einen kurzen Augenblick unverwandt ihre kühle Hand in
der seinen. „Als würde er dazu jemals den Mut aufbringen.“ Ihre Stimme klang
seltsam matt.
Carola
Carola macht sich keine weiteren Gedanken, die Unterhaltung
vor dem Bistro betreffend. Das einzige, was ihr noch zumindest für kurze Zeit zu
denken gibt, ist die Frage, ob Thomas ihre Kenntnis Ralph betreffend seltsam
erschien. Doch auch das schiebt sie alsbald zur Seite, ihre Sorge gilt etwas
vollkommen anderem. Thomas hatte sie am Abend zuvor nicht bei sich haben wollen.
Aus der Tür draußen, weinte sie ein paar trockene Tränen. Sie war verletzt und
der Nachtwind flüsterte in ihr Ohr.
Er hatte viele Stimmen. Es waren die Stimmen von Kindern,
die sie einst gekannt hatte, die gelacht hatten, war sie an ihnen vorbeigegangen
– nicht über sie über ihren Körper. Sie
war als Kind zu dick gewesen. Jedem Gramm Fett wurde grauenvolle Aufmerksamkeit
geschenkt worden. Aufmerksamkeit, die man nicht verdient – die sich niemand
verdienen kann.
Das eigentlich Zerstörerische war jedoch sie selbst gewesen
– Carola, die niemals auf die Idee kam, dass die anderen im Unrecht gewesen
waren.
Thomas
Der Schrei. Carolas Ruf prallt gegen die Zimmerdecke, landet
schwer auf Thomas erschöpftem Rücken. Wie unter dieser Last nicht
zusammenbrechen? – Er stemmt seine Arme in ihre Handflächen und sie umschließt
seine zitternden Hände.
Carola
Thomas Atem rauscht in ihrem Ohr, wie das Meer in einer
Muschel. Sie streckt ihren Hals, um näher – noch ein wenig näher – zu seinem
geöffneten Mund zu sein.
Thomas
Erwartet sie, dass er etwas sagt? „Du bist schön, Carola.“
Er sagt, sie sei schön und im selben Moment verlässt sie der Mut, die Offenheit
und – und dies zerstört sie – die Vertrautheit. Die Nähe verwandelt sich in
Enge – in Gefahr. Sie löst sich los und sieht ihn nicht mehr an.
Sandra
Manchmal kommen Sandra Gedanken. Sie vermutet, dass es die
Gedanken sind, die kommen, wenn man sich eigentlich, um nichts zu sorgen
braucht. Es sind die Gedanken über Leben und Tod. Ihnen wohnt die Kraft der
ewigen Gültigkeit inne. Sie sind nicht situativ, das macht sie erschreckend.
Es macht einen Unterschied, ob man in einer Situation Angst
hat zu sterben, denn sie lässt von einem los, sobald man überlebt, oder ob man
der Kraft der prinzipiellen, umstandslosen Angst unterliegt. Ist sie aufgrund
ihrer Unabhängigkeit ungültig oder – gerade deswegen – die einzige Wahrheit?
Was wäre der Ausweg? Was kann die Angst stillen? Die
Unsterblichkeit?
Pascal
Pascal sagt immer, die Unsterblichkeit ist ein Begriff ohne
Inhalt und der Tod optionslos. Etwas, das ohne Option existiert, existiert ohne
Eigenschaft.
Sandra
Sandra kann ihm nicht glauben.
Ralph und Thomas.
„Wie war‘s?“
„Der Psychiater ist zum Vergessen.“
„Ach ja? Zum Vergessen?“
„Ach ja? Zum Vergessen?“
„Ein verdammter Dieb ist das.“
„Was hat er denn verlangt.“
„80, aber darum geht es mir nicht. Er hat mir kein Geld
gestohlen.“
„Sondern?“
„Er hat mich gar nicht bestohlen. Er will mich bestehlen.“
„Was denn? Was will er stehlen?“
„Meine Ansichten, meine Meinung, meine Gedanken – Er will
mich.“
„Hat er das gesagt?“
„Nein, aber ich weiß es. Er will, dass ich alles bisher
gedachte, überdenke. Und dann? Was gilt es zu glauben, wenn man nicht den
eigenen Gedanken traut?“
„Selbsttranszendenz befreit uns zumindest zum Teil aus der
Determiniertheit.“
„Schwachsinn. Selbsttranszendenz zwingt die freien Gedanken
in den Kerker, der aus anderen Gedanken geschmiedet, darauf wartet, selbst
eingesperrt zu werden, denn Selbsttranszendenz ist ein Prozess, der nicht zu
Ende geht, solange man lebt. Und das nennst du Freiheit?“
„Keine Ahnung – du machst mich nervös.“
„Siehst du?“
„Nein, ich sehe nicht. Ich verstehe dich nicht. Du kannst
mir nicht einreden, dass Selbstreflexion nicht notwendig ist.“
„Notwendig wofür?“
„Glücklicher zu werden.“
„Notwendig wofür?“
„Glücklicher zu werden.“
„Glücklicher also – darum geht es dir. Na gut, glücklicher
wirst du vielleicht, sobald die Vernunft die Kraft deiner echten Gedanken
versiegen lässt, wenn du relativierst und dich selbst verkleinerst – die
Bedingtheit deiner Gedanken analysierst, aber du bleibst ein Lügner – möglicherweise
ein noch größerer als du es je zuvor warst. Du rückst der Wahrheit nicht näher
– möglicherweise entfernst du dich von ihr.“
Pascal
„Die Wahrheit. Hör dir doch selbst zu. Pascal sagt, die
Wahrheit ist ein leeres Wort und so bleibt die Lüge optionslos, ohne
Eigenschaften.“
Thomas
„Und jetzt?“
„Alles was uns bleibt, ist unsere Sicht auf die Dinge, die es zu überdenken gilt, denn nur wer seine Gedanken solange verfolgt bis er zumindest für einen kurzen Moment das Glück in sich spürt. Das Glück ist alles, was einem bleibt. Vielleicht hat Pascal Unrecht und die Wahrheit hat einen Inhalt. Ich weiß es nicht – aber vielleicht – ich denke – vielleicht ist die Wahrheit das Glück, vielleicht ist der Wunsch, sich und andere glücklich zu machen, wahr.“
„Alles was uns bleibt, ist unsere Sicht auf die Dinge, die es zu überdenken gilt, denn nur wer seine Gedanken solange verfolgt bis er zumindest für einen kurzen Moment das Glück in sich spürt. Das Glück ist alles, was einem bleibt. Vielleicht hat Pascal Unrecht und die Wahrheit hat einen Inhalt. Ich weiß es nicht – aber vielleicht – ich denke – vielleicht ist die Wahrheit das Glück, vielleicht ist der Wunsch, sich und andere glücklich zu machen, wahr.“
„Oft ist Glück verfälscht.“
„Verfälschtes Glück?“
„Ja, Glück als Produkt einer Erwartung an sich selbst, dass man in dieser oder jener Situation glücklich zu sein hat. Man redet sich das Glück ein.“
„Ja, Glück als Produkt einer Erwartung an sich selbst, dass man in dieser oder jener Situation glücklich zu sein hat. Man redet sich das Glück ein.“
Thomas versucht das Gespräch belanglos ausklingen zu lassen.
„Das kann dir ja nicht passieren.“
Ralph bleibt ernst.
„Aber ich kenne solche Menschen. Sie unterscheiden nicht
zwischen Glück und Einbildung. Ich habe dir nie von Carola erzählt, aber sie…“
Carola
„Was gibt dir im Leben Sicherheit?“
„Verantwortung.“
„Was gibt dir Leichtigkeit?“
„Zu wissen, dass ich nicht für alles in meinem Leben
Verantwortung trage.“
„Und Freiheit? Was gibt dir Freiheit?“
„Zu wissen, dass ich alles subjektiv erlebe – nichts so oder
so ist – sondern ich alles durch meine Einstellung verändern kann. Das ist
wichtig, gerade bei jenen Dingen, die man nicht zu verantworten hat.“
„Ralph meint, man ist nie frei, kann auch nicht an Freiheit
gewinnen, egal wie weit und vielschichtig man denkt. Ich glaube, ich gebe ihm
Recht, aber nicht, weil ich mich wie er als Gefangener meines Schicksals fühle
– viel mehr zweifel ich an der Freiheit meiner Gedanken. Sie sind von meiner
Vergangenheit und meiner Gegenwart, meinen biologischen Voraussetzungen und meiner
Umwelt modelliert.“
„Auch bedingte Freiheit bleibt ist Freiheit, nur eben
bedingt. Ralph und du lenken eure ganze Aufmerksamkeit auf die Bedingtheit, ich
jedoch sehe erblicke hinter der Determiniertheit meine Freiheit. Hab doch keine
Angst vor ihr, du bist nicht wie Ralph.“
„Wann habt ihr euch kennengelernt?“
„Wer?“
„Du und Ralph?“
„Ach, ich kenne bloß Menschen wie Ralph zu genüge.“
Sie schweigen.
„Im Herbst vor vier Jahren. Hat er über uns gesprochen?“
Im Grunde wollte Carola nie lügen, glaubte bloß, es sei
angebracht. Nun, da es ausgesprochen ist, hat sie interessanterweise keine
Bedenken, eher Zuversicht gegenüber Thomas Reaktion.
Schwierig zu sagen, ob das, was Thomas nun sagt als Reaktion
zu verstehen ist.
Pascal
„Pascal sagt, die Freiheit ist nicht mehr als eine Worthülle,
doch hat sie eine Option und man kann sich ihr nähern, auch wenn sie
unerreichbar ist. Sie bleibt nicht ohne Eigenschaften. Sie ist das zugleich das
Schönste und Furchteinflößenste in ihrer Existenzlosigkeit. Sie zu erreichen
ist unmöglich,“
Thomas
„doch ich denke, in ihr verbirgt sich die Wahrheit – genauso
existenzlos.“ Er hält kurz inne. „Außer der Mensch erfährt sie im Concon des
Glück.“ Er steht auf und geht.
Carola
Carola sehnt sich nach der Liebe. Sie will sie. Carola geht
zu Simon und Simon zieht sie aus.
Vollkommen entblößt vergisst alle Gedanken, begraben unter dem einzigen Wunsch,
ihm in diesem Augenblick zu gefallen, von ihm akzeptiert zu werden. Nein, nicht
nur Akzeptanz, nicht nur Gefallen – sie soll ihm in Erinnerung bleiben,
wenigstens Simon. Ohne es zu wissen, glaubt Carola noch immer im Gedächtnis
anderer zu existieren – bestimmt nicht immer, doch immer dann, wenn die
Unsicherheit ihr altes Ego zum Leben erweckt, so wie jetzt, da sie nackt vor
Simon steht. Dieser kurze Augenblick, indem sie ihm bloß gegenüber steht, ist
ohne Reue.
Dann Simons Berührung – fernab ihrer Vorstellung. In jeder
Bewegung glaubt sie seine Unsicherheit zu spüren. Ihre Unsicherheit reicht aus
– reicht aus für zwei in einem Bett – in einem Raum. Er macht ihr Angst. Es
macht ihr Angst, die fragilen Gedanken eines anderen erahnen zu müssen.
Und sie hasst Simon für seine Unsicherheit. Sie findet es
beschämend, dass er ihr keinen Halt zu geben vermag – Ralph nicht, Thomas nicht
und nun auch Simon, der in seiner Unerreichbarkeit immer so stark wirkte.
Carola verlässt Simon, noch abrupter, noch überraschender,
als sie Thomas verließ.
Thomas
Ist das Dasein, das von dem täglichen Gedanken, es müsse
sich etwas ändern, geprägt ist, vielleicht das dem regen Geist einzig mögliche,
oder ist der Glaube, ein friedvolleres, überzeugteres Dasein vor sich zu haben
nur ein Zeichen der Furcht – der Furcht vor Leben selbst, da es zu beginnen
bedeutet, der Gefahr ausgeliefert zu sein, es reuevoll beenden zu müssen? Oder
ist die größte Furcht jene davor, erkennen zu müssen, dass keine Weise zu leben
über die Angst vor dem Tod hinwegträgt?
Carola und Thomas
„Was bedeutet Freiheit für dich?“
„Jeden Tag jemand anderes zu sein.“
„Und was Sicherheit?“
„Und was Sicherheit?“
„Jeden Tag mit dem Gedanken aufzuwachen, ich würde meine
Identität verankern können, ohne umstandslose Ängste leben, in dem Wissen, wer
ich bin und wer ich einmal gewesen sein werde.“
Thomas
Als Thomas geboren wurde, war er zu klein und zu schmächtig
und seine Mutter voller Sorge und Thomas blieb nichts anderes über, als ihr die
Muttermilch angereichert mit Angst aus der Brust zu trinken – immer mehr, jeden
Tag noch ein wenig mehr. Er wurde kräftiger. Sein Körper wurde kräftiger.
Früh verspürte Thomas Angst – Angst seine Liebsten zu
verlieren, seine Mutter. So lange bis er alt genug war, um zu verstehen, dass
ihn nichts vor der Vergänglichkeit bewahren würde – nicht bei seiner Mutter zu
bleiben, aber auch nicht hinaus in die Welt zu gehen, berühmt zu werden. Keine
Gedenkstätte, keine Gedanken eines anderes an ihn würde ihn unsterblich machen.
Die Mutter hatte so Angst um das geschwächte gehabt. Nun
hatte er sie selbst – gerade dann, wenn das Leben ganz frei von Gefahr schien,
der Tod weit entfernt, irreal – gerade dann, wenn keine Anforderungen an ihn
gestellt wurden und sich gedankliche Freiräume auftaten.
War alles, was ihm fehlte, eine Identität, die ihn klar
definierte. Er existierte mehr als Teil seiner Mutter, noch immer wie ein
Embrio, verbunden durch die Nabelschnur der Sorge.
Er war nie bereit, seine Meinung ohne Zuspruch seiner Mutter
zu bilden. Als er zu alt war, um sich immer ihren Rat zu erbeten, war es ihm am
liebsten, die Dinge waren schwarz oder weiß und ihm wurde die Entscheidung
abgenommen.
Ihm war also nichts anderes über geblieben, als aufzustehen
und zu gehen, als Carola ihm ihre Bekanntschaft mit Ralph gestand. Er war nicht
böse. Er war nicht gegangen, weil er wütend auf sie war – bloß unsicher,
unfassbar unsicher.
Doch was verunsicherte ihn so sehr? War es tatsächlich die
Vergangenheit mit Ralph? So absurd es scheint, es ist nicht abwegig. Insgeheim quält
Thomas gegenüber Ralph ein tiefes Minderwertigkeitsgefühl. Ralph ist stets
überzeugt von seinen Entscheidungen – auch wenn ihnen nicht immer Taten folgen
– er glaubt sich – nicht wie Thomas der verunsichert die einfachen Dinge des
Lebens nicht zu entscheiden vermag. Ralph ist ein zerrissener Intellektueller,
Thomas ein unfähiges Kind. Daran glaubt Thomas.
Ohne Carola spürt Thomas die Angst vor der Vergänglichkeit
besonders stark und gleichzeitig ist er beruhigt – beruhigt zu wissen, dass sie
in ihrer Bedingungslosigkeit, doch in ihrer Intensität variieren kann.
Kommentare
Kommentar veröffentlichen