Expose
Exposé
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Arbeitstitel:
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Kaiser Franz Joseph I. als österreichischer
‚Erinnerungsort‘ in der Gegenwart
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Universität Wien
Historisch-Kulturwissenschaftliche
Fakultät
Institut für Europäische Ethnologie
PS
Wissenschaftliches Arbeiten und Schreiben / STEOP B 130
LV-Leiterin:
Dipl.-Ing. Katrin Ecker, MA
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Marie Hummer
Matrikelnummer: 1616508
E-Mail:
marie.hummer@chello.at
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WS 2016/17
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22.1.2017
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1. Einbettung in Forschungskontext und gesellschaftlichen Kontext
Das „kollektive[s] Gedächtnis“[1] wird
in vielen kulturwissenschaftlichen Einführungswerken, wie beispielsweise in
jenem des Ethnologen Wolfgang Kaschuba[2], in
Verbindung mit dem Identitätsbegriff ausführlich behandelt. Die thematische
Eingrenzung erfolgt hin zur Beschäftigung mit den „lieu[x] de mémoire“[3] („Erinnerungsorte“[4]),
wobei Pierre Noras Theorie der ‚lieux de mémoire‘[5]
den Ursprung der wissenschaftlichen Auseinandersetzung bildet.
Forschungsgegenstand der geplanten Arbeit ist Kaiser Franz Joseph I., der als ‚Erinnerungsort‘
Österreichs bis in die Gegenwart sowohl wirtschaftlich und politisch als auch
gesellschaftlich und medial präsent ist. Während die Literaturrecherche zur historischen
Funktion des Kaisers als ‚Erinnerungsort‘, wie etwa zur Stärkung eines
nationalen ‚kollektiven Gedächtnisses‘ in der Zwischen- und Nachkriegszeit, zu
zahlreichen wissenschaftlichen Publikationen führt, ist erkennbar, dass die Auseinandersetzung
mit dem Dynasten als ‚lieu de mémoire‘ in der heutigen Zeit oft nicht wissenschaftlich
exakt und differenziert oder auf Empirie aufbauend erfolgt, sondern meist
verallgemeinernd. Texte, welche die Habsburgerdynastie oder explizit Kaiser
Franz Joseph behandeln, tragen entweder durch ausgeprägten Nostalgiecharakter
oder durch historisch unpräzise Kritik, subjektiviert und sehr gegensätzlich
beschreibend, zur Konstruktion des Erinnerungsort-Charakters Kaiser Franz
Jospehs bei. Neuerscheinungen und museale Aufbereitungen, die den Monarchen
thematisieren, sind insbesondere in den letzten Jahren zahlreich.
2. Fragestellung
Ich untersuche die Präsenz Kaiser Franz Josephs I. als
‚Erinnerungsort‘ des nationalen ‚kollektiven Gedächtnis‘ Österreichs in der
heutigen Zeit, um eine differenziertere aktualisierte Darstellung im Sinne
tatsächlicher Interessensgruppen und genauer untersuchten Interessenslagen fern
von Verallgemeinerungen, die in diversen Kontexten wie musealen Aufbereitungen
und literarischen Auseinandersetzungen zu finden sind, zu diskutieren.
3. Theoretischer Hintergrund
3.1 Erinnerung und Gedächtnis
Zugunsten
einer exakteren als der alltäglichen Anwendung des Gedächtnis- und Erinnerungsbegriffes erfolgt eine Explikation
dieser.
Die
Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann unterscheidet zwischen einem „Speichergedächtnis“[6] im
Sinne eines „Reservoir[s] der Möglichkeiten“[7]
und einem „Funktionsgedächtnis“[8],
die miteinander verbunden sind. Ersteres ist
‚Ort‘ des „potentiell verfügbare[n]“, und letzteres jener des
ausgewählten, aktuellen „Erinnerungsmaterial[s]“ [9].
Maßgeblich an der Konstruktion von Identität und Sinn beteiligt und somit für
diese Arbeit relevant ist das Funktionsgedächtnis als „lebendige[n]“[10],
„konkrete“[11],
„gestaltende Erinnerung“[12]
daher als ‚Ort‘ all dessen, das aus der Informationsfülle des
Speichergedächtnisses ausgewählt in den „Vordergrund“[13]
rückt. Diese Verschiebung kann ein „Prozess historischer Sinngebung“[14]
sein, da Material durch die Aufnahme ins Funktionsgedächtnis
„vergegenwärtig[t]“[15], vermittelbar
als Teil von Erzähltem und zugunsten eigener Wahrnehmung und Darstellung von
Identität als sinngebendes Element „aktualisiert“[16]
wird[17].
Das
Speichergedächtnis ist nach Assmann somit ‚Aufbewahrungsort‘ des „einmal
Gedachten, Veräußerten und Toten“[18],
das den Vorgang des Erinnerns ermöglicht und aus diesem resultiert, wohingegen
das Erinnern selbst nicht dauerhaft ist und etwas Unstetiges, in der Gegenwart
Ablaufendes beschreibt[19].
3.2 Kollektives Gedächtnis und Erinnerungsort
Maurice
Halbwachs Idee eines „sozialen Gruppengedächtnisses“[20]
ist in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein vollkommen neuer Forschungsansatz,
wobei davon ausgegangen wird, dass das Gedächtnis nicht an ein Individuum
gebunden ist, sondern auch von mehreren Menschen „geteilt[e]“[21]
bestehen kann. Das „kollektive[s]
Gedächtnis“[22]
ist nicht ausschließlich als Eigenheit kleiner Kollektive zu denken, sondern genauso
als in größeren, nicht zuletzt politisch konstruierten Gruppierungen bestehend.
Gerade in diesen hat der ‚Erinnerungsort‘ in seinen verschiedensten
Ausprägungen eine bedeutende Position, da jener für die Konstruktion des
langsam „aufgebaut[en]“[23]
Gedächtnisses, das nicht von Natur aus vorhanden ist, entscheidend ist.
Der ‚Erinnerungsort‘ kann als „Bezugspunkt[en] in der kulturellen
Überlieferung“[24],
der konkretisierende und verbindliche Wirkung auf die Gedächtnisbildung des
Kollektivs ausübt[25], definiert
werden. Er trägt neben verschiedenen Arten „praktizierter Zugehörigkeit“[26],
Lernprozessen und anderen „Medien des Gedächtnisses“[27]
zur Bildung einer „Wir-Identität“[28],
die nicht natürlich vorausgesetzt angenommen werden kann, bei[29].
Allgemein
hängt die Auswahl des zu einem Teil des kollektiven Gedächtnisses Etablierten
von der „Erinnerungskultur“[30]
des jeweiligen Kollektivs ab[31].
Der
‚Erinnerungsort‘ darf nicht auf „Behälter- und Gebäudemetaphern“[32]
reduziert betrachtet werden, sondern bezeichnet die „Materialisierung,
Verräumlichung, Inkorporierung als Mittel der Gedächtnisbildung“[33]
in vielerlei Hinsicht[34].
3.3 Museale Aufbereitung und Geschichtsverarbeitung als Teil des kollektiven Gedächtnisses
Das
kollektive Gedächtnis durch kulturelle Vermittlung und Beschreibung von
Geschichte zu aktualisieren, zu verändern und zu stabilisieren, erfolgt nicht
zuletzt in musealen Aufbereitungen geschichtlicher Stoffe[35].
Die Beschäftigung mit der eigenen Geschichte ist wichtiger Bestandteil der
Identitätsbildung eines Kollektivs[36],
da diese zur Grenzziehung zu anderen Kollektiven hin und dem Erkennen vermeintlicher‚
gruppenspezifischer Merkmale‘ erforderlich ist[37]. Der
Wunsch nach Individualisierung und Identität kann dazu führen, dass verklärte
Aufzeigung vermeintlicher „Kontinuität“[38]
im Sinne einer „Identität-über-die-Zeit“[39]
statt einer sachlichen Berichterstattung über Geschehnisse und Thematiken der
Vergangenheit erfolgt. Auch in der heutigen Zeit dienen solche
Darstellungsweisen vielen Kollektiven zur Kompensierung eines Gefühls der
„Abstraktheit, Uniformität und Ersetzbarkeit“[40].
4. Methodik und Vorgehensweise
4.1 Literaturgestützte Arbeit
Begriffsdefinitionen
sollen möglichen Anwendungsschwierigkeiten der bedeutungsähnlichen und oft in
der alltäglichen Welt synonym angewendeten Begriffe vorbeugen.
Die
Einführung in die Thematik erfolgt literaturgestützt, historisch so wie auch
auf die Gegenwart bezogen. Die Biographie Kaiser Franz Josephs I. und die Auseinandersetzung
mit der letzten Regentschaftsperiode der Habsburgerdynastie in einer
untergehenden Monarchie sollen möglichst wertungsfrei sein, wobei allein durch
die Informationsbeschränktheit und Quellenauswahl selbstverständlich nicht von
‚objektiver‘ Darstellung ausgegangen werden kann.
Es
werden die Anfänge einer Konstruktion zum Mythos und die historische
Entwicklung der Repräsentation und der
Mythos-Konstruktion des ‚ewigen Kaisers‘ nach 1916 aufgezeigt, indem systematisch die Repräsentationsindustrie
ab der Regentschaft des Kaisers bis in die heutige Zeit beleuchtet und Gründe,
Medien, Produzenten und Publikum des Mythologisierungsprozesses analysiert
werden. Es wird der Frage nachgegangen, welche
Werte Kaiser Franz Joseph personifiziert.
Im Sinne einer exakten
Publikationsanalyse zur literarischen
Darstellung Kaiser Franz Josephs und dessen Mythologisierung in aktuelleren
Werken wird
die Literatur nicht als kritiklos behandelte Quelle, sondern zur Aufzeigung von Diskrepanzen in der Literatur
und der bestehenden Mythoskonstruktion anhand exemplarischer Beispiele
verwendet. Neben der Offenlegung der aktuell nicht erfolgenden
Entmythologisierung, wird Einblick in die Darstellungsvielfalt im Sinne eines
Kontextes gegeben, in welchen dann auch unabhängig von Interpretation der
Verfasserin die Aussagen und Gedankengänge der Interviewten eingeordnet werden
können. Die verschiedenen Blickwinkel sollen gemeinsam mit der möglichst
exakten historischen Darstellung dazu dienen, weg von einem als allein gültig
empfundenen, im Grunde jedoch individuell konstruierten Bild des Kaisers und
der Dynastie zu kommen und die den Interviews entnommenen Aussagen nicht
vorschnell zu werten.
Es
erfolgt die literaturgestützte Beantwortung der Forschungsfrage.
Erklärungsansätze für die bestehende Faszination für den Monarchen sind in
literarischen Publikationen zu finden, wenn auch in jenen, die im Zuge der
Recherche bereits gelesen wurden, nur in kurzer, unpräzis gehaltener Form. Es
wird nach Gründen für die bestehende Mythologisierung des ‚ewigen Kaisers‘, die
Aufmerksamkeit der österreichischen Medienwelt sowie der Gesellschaft und nach
möglichen Eingrenzungen auf spezifische Interessensgruppen in der Gegenwart
gesucht.
4.2 Feldforschung – Qualitative Interviews
Es
wird davon ausgegangen, dass durch eine Feldstudie zumindest in einem kleinen
Ausschnitt Antworten auf die Fragestellung erhalten werden. Es besteht kein Anspruch auf allgemeine
Gültigkeit und auf größere Felder ausweitbare Aussagen. Anhand der den Interviews
entnommenen Informationen soll ein neuer,
differenzierter Grenzziehungs- und Erklärungsversuch zu den Mitgliedern der
Interessensgruppen, deren Beweggründe zur Auseinandersetzung mit Kaiser Franz Joseph
bzw. in weiterer Folge zum Museumsbesuch, so wie zu erschaffenen Bildern und Vorstellungen zu Kaiser Franz Joseph erarbeitet werden. Ort der
Interviews wird das Sissi-Museum in der Hofburg sein. An mehreren Tagen werden
Besucherinnen und Besucher in offener Form befragt.
Einen
weiteren Punkt stellt die Aufzeigung der Bedeutung und des Einflusses von
musealen Darstellungen des Kaisers dar. So erfolgt neben narrativen
Interviews die Auseinandersetzung mit der musealen Aufbereitungen und Fokussetzungen als Teil der
Forschungsarbeit. Weiterführend
wäre es von Interesse zu erfahren, wie die Befragten die Informationen, auf die
sie das Bild stützen, erhalten, welche weiteren Medien, Einrichtungen oder
Personen hier von Relevanz sind.
5. Literaturliste
5.1 Verwendete Literatur
·
Emil Anghern: Kultur und Geschichte. Historizität der Kultur und
kulturelles Gedächtnis. In: Friedrich Jaeger; Burkhard Liebsch [Hrsg.]:
Grundlagen und Schlüsselbegriffe (= Handbuch der Kulturwissenschaften 1).
Stuttgart; Weimar 2004, S. 385-400.
·
Aleida Assmann: Grundbegriffe der Gedächtnisforschung. In: dies.:
Einführung in die Kulturwissenschaft. Grundbegriffe, Themen, Fragestellungen (=
Grundlagen der Anglistik und Amerikanistik 27). 3., neu bearbeitete Auflage,
Berlin 2011, S. 182-189.
·
Andreas Degen: Was ist ein Erinnerungsort? Zu Begriff und Theorie
topographischen Erinnerns in politischer und phänomenologischer Hinsicht. In:
Bernd Neumann; Andrzej Talarczyk [Hrsg.]: Erzählregionen. Regionales Erzählen
und Erzählen über eine Region. Ein polnisch-deutsch-norwegisches Symposium.
Aachen 2011, S. 70-91.
·
Pierre Nora: Les Lieux de mémoire. Paris 1997.
·
Wolfgang Kaschuba: Einführung in die Europäische Ethnologie. München
2012.
5.2 Weiterführende Literatur
·
Roland Bässler: Die Interviewführung. In: ders.:
Qualitative Forschungsmethoden. Leitfaden zur Planung und Durchführung
qualitativer empirischer Forschungsarbeiten (= Wissenschaftliches Arbeiten 3).
3., überarbeitete und erweiterte Auflage, Wien 2014, S. 64-67.
·
Thomas Etzemüller: Konstruktionen der
Biographie. In: ders.: Biographien. Lesen - erforschen – erzählen (=
Historische Einführungen 12). Frankfurt am Main [u.a.] 2012, S. 102-126.
·
Christian Gudehus; Ariane Eichenberg; Harald
Welzer [Hrsg.]: Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch.
Stuttgart; Weimar 2010.
·
Brigitte
Hamann: Franz Joseph und Elisabeth. In: dies.: Österreich. Ein historisches
Portrait. München 2009, S. 79-90.
·
Heinz-Dieter
Heimann: Franz Joseph I. Symbol der Donaumonarchie. In: ders.: Die Habsburger.
Dynastie und Kaiserreiche. 4. Auflage, München 2016, S. 99-106.
·
Hannes
Leidinger; Verena Moritz; Berndt Schippler [Hrsg.]: Schwarzbuch der Habsburger.
Die unrühmliche Geschichte eines Herrscherhauses. Innsbruck; Wien 2010.
·
Katrin Unterreiner: Kaiser Franz
Joseph I. In: dies.: Die Habsburger. Mythos & Wahrheit. Graz; Klagenfurt; Wien
2011, S. 63-100.
·
Dietmar Pieper; Johannes Saltzwedel
[Hrsg.]: Die Welt der Habsburger. Glanz und Tragik eines europäischen
Herrscherhauses. Hamburg; München 2011.
·
Michaela
Vocelka; Karl Vocelka: Franz Joseph I. Kaiser von Österreich und König von
Ungarn. 1830 – 1916. Eine Biografie. München 2015.
[1] Aleida Assmann: Grundbegriffe
der Gedächtnisforschung. In: dies.: Einführung in die Kulturwissenschaft.
Grundbegriffe, Themen, Fragestellungen (= Grundlagen der Anglistik und
Amerikanistik 27). 3., neu bearbeitete Auflage, Berlin 2011, S. 182-189, hier
S. 189.
[2] Wolfgang
Kaschuba: Einführung in die Europäische Ethnologie. München 2012.
[3] Kaschuba
2012, S. 172.
[4] Andreas
Degen: Was ist ein Erinnerungsort? Zu Begriff und Theorie topographischen
Erinnerns in politischer und phänomenologischer Hinsicht. In: Bernd Neumann;
Andrzej Talarczyk [Hrsg.]: Erzählregionen. Regionales Erzählen und Erzählen
über eine Region. Ein polnisch-deutsch-norwegisches Symposium. Aachen 2011, S.
70-91.
[5] Pierre
Nora: Les Lieux de mémoire. Paris 1997.
[6] Emil
Anghern: Kultur und Geschichte. Historizität der Kultur und kulturelles
Gedächtnis. In: Friedrich Jaeger; Burkhard Liebsch [Hrsg.]: Grundlagen und
Schlüsselbegriffe (= Handbuch der Kulturwissenschaften 1). Weimar; Stuttgart
2004, S. 385-400, hier S. 393.
[7] Ebd.
[8] Ebd.
[9] Ebd.
[10] Ebd. S.
392.
[11] Ebd. S. 393.
[12] Ebd.
[13] Ebd.
[14] Ebd.
[15] Ebd. S.
392.
[16] Ebd. S.
393.
[17] Vgl. ebd.
S. 392f.
[18] Assmann 2011, S. 182.
[19] Vgl. ebd.
S. 182.
[21] Ebd.
[22] Ebd.
[23] Anghern
2004, S. 393.
[24] Assmann
2011, S. 189.
[25] Vgl.
Anghern 2004, S. 394.
[26] Assmann
2011, S. 189.
[27] Anghern
2004, S. 394.
[28] Assmann
2011, S. 189.
[29] Vgl. Ebd.
[30] Angherm
2004, S. 393.
[31] Vgl. ebd.
[32] Ebd. S.
394.
[33] Ebd.
[34] Vgl. ebd.
[35] Vgl. ebd.
S. 393.
[36] Vgl. ebd.
S. 394.
[37] Vgl. ebd.
S. 396.
[38] Ebd. S.
397.
[39] Ebd.
[40] Ebd. S.
396.
2
Thematische Eingrenzung
Einzelpersonen sowie kleine und große Gruppierungen
verzichten temporär oder über längere Zeit, auf verschiedensten Beweggründen
basierend, auf gewisse Lebensmittel oder stellen die gesamte Nahrungsaufnahme
ein.
Die bekannteste und älteste Form des freiwilligen Nahrungsverzichts
ist das religiös motivierte Fasten, das in vielen Religionen Weg zur Erkennung
der Wahrheit darstellt[1].
Im Christentum hat Askese in den
Anfängen eine große Bedeutung und ist, wenn auch immer wieder neu gestaltet,
von jeher ein hochangesehener Aspekt der Religionsausübung[2].
Von außen erfährt das religiös motivierte Hungern Kritik[3], wobei Theologen auf die Askese im Sinne einer Öffnung
hin zum Wirklichen im Gegensatz zur einfachen Reduzierung der Nahrungsaufnahme
hinweisen[4].
Dass die Zahl an Menschen, die aus religiöser Überzeugung fasten,
in der modernen Zeit zurückzugehen scheint, bedeutet nicht, dass das Thema des
Nahrungsverzichts an Aktualität und Weitreiche verliert. Bewusste Ernährung im
Sinne der Selbstverwirklichung, körperlichen und geistigen Gesundung, sowie als
Aspekt der Weltverbesserung ist hochaktuell. Der Reiz des Verzichts aus verschiedensten
Gründen und mit unterschiedlichen Zielen verhält sich proportional zum Reichtum
und Überfluss einer Gesellschaft.[5]
Studien belegen dies zu Genüge, denn Askese und Verzicht sind vielfach
untersuchte Trends der modernen Zeit[6].
Verzicht zeugt von Prävention, gestützt durch ein wachsendes
Risikobewusstsein. Die eigene Gesundheit, und oft auch die gefährdete Umwelt, sollen
vor negativen Entwicklungen geschützt werden. Doch gibt die Sicherheit der
wohlhabenden Gesellschaft auch die Möglichkeit zur Promotion, zu dem Streben
nach körperlichen und geistlichen Idealen und der Erfüllung von Wünschen.[7] In Internetforen und mithilfe anderer Medien der
Kommunikation bilden Verzichtende ein wachsendes Netzwerk[8].
Drei Phänomene der modernen Wohlstandsgesellschaft sollen
behandelt werden. Oft stehen reglementierte Ernährungsweisen, im Sinne eines
freiwilligen Verzichts auf bestimmte Nahrungsmittel oder Zubereitungsarten[9],
in Verbindung mit einer umweltschonenderen Lebensweise und antikapitalistischer
Haltung[10].
Neben jenen konsumkritischen Communities[11]
lassen sich Menschen mit anderen Beweggründen, wie einer Gewichtsabnahme[12] oder asketischen Zurückhaltung hin zur Selbsteinsicht[13]
ausmachen. Auch all jene, bei denen Askese zur selbstzerstörerischen Krankheit
mutiert, sollen Erwähnung finden[14].
Vergleicht man die drei genannten Formen mit religiösem
Fasten sind die Beweggründe zum Verzicht auf Nahrung zwar – bei einer
Ausprägung mehr, bei der anderen weniger – sehr unterschiedlich von jenen des
Fastens, doch zeugen alle vier Arten des Verzichts von einer von Epochen
unabhängigen, positiv apostrophierten Vorstellung von den Auswirkungen von diesem
auf das Individuum und dem stetigen Interesse an Reglementierung der eigenen
Ernährungsweise[15],
dem Wunsch nach mehr Sicherheit und Kontrolle des eigenen Lebens und Umfeldes[16].
Alle vier vorgestellten Typen der Askese sind Teile größerer
Gewebe der Lebensgestaltung und Sinngebung[17],
so sind Erwartungen an die Veränderung des Essverhaltens geknüpft[18],
so wie der Wunsch nach Differenzierung im Sinne einer Selbstfindung und -optimierung[19],
aber auch nach sozialer Zugehörigkeit und Akzeptanz[20].
Mich interessiert der Kontext, in den Mahlzeiten und
Lebensmittel gebettet werden, welche Ideen und Vorstellungen Nahrungsverzicht
symbolisiert, welche Hoffnungen und Erwartungen mit diesem einhergehen. Ich
möchte neben den Unterschieden insbesondere Zusammenhänge der
Gruppierungsprozesse, Selbstverortungen, Identitätsbildungen, Verhältnisse vom
Individuum zur Gemeinschaft, Wertsysteme und Reglementierungen herausarbeiten,
die, sind sie auch nicht derart offensichtlich, vielleicht zahlreicher sind,
als angenommen. So werden alle Typen des Verzichts als soziale Praxis der
Selbstverortung betrachtet.
Als Literatur dient neben Fachtexten eine Auswahl an
Ratgebern zu eben jener, immer mehr Menschen attraktiv erscheinenden, auf
Verzicht basierenden Lebensweise, Internetforen, Blogs und theologische Texten
zur Fastenzeit im Christentum.
Literaturverzeichnis [Exposé]
Engadiner
Kollegium [Hrsg.]: Die unersättliche Gesellschaft. Wieviel Konsum verträgt der
Mensch? Freiburg im Br.; Wien [u.a.] 1992.
Jens
Förster: Was das Haben mit dem Sein
macht: Die neue Psychologie von Konsum und Verzicht. München 2015.
Wolfgang
Schmidbauer: Weniger ist manchmal mehr. Zur Psychologie des Konsumverzichts.
vollständig überarb. u. erw. Neuausgabe, Reinbek bei Hamburg 1992.
Gabriele
Sorgo [Hrsg.]: Askese und Konsum. Wien 2002.
Carsten
Wippermann: Religion, Identität und Lebensführung. Typische Konfigurationen in
der fortgeschrittenen Moderne; Mit einer empirischen Analyse zu Jugendlichen
und jungen Erwachsenen. Opladen 1998.
Literatur
Jessi
Andricks: Detox 101. A 21-day guide to cleansing your body through juicing,
exercise, and healthy living. New York 2014.
Eva
Barlösius: Soziologie des Essens. Eine sozial- und kulturwissenschaftliche
Einführung in die Ernährungsforschung. Weinheim; München 1999.
Peter
Brown: Die Keuschheit der Engel. Sexuelle Entsagung, Askese und Körperlichkeit
im frühen Christentum. München 1994.
Rudolf
Ginters: Werte und Normen: Einführung in die philosophische und theologische
Ethik: Göttingen ; Düsseldorf 1982.
Reimer
Gronemeyer: Die neue Lust an der Askese. Berlin 1998.
Dan
Jakubowicz: Genuß und Nachhaltigkeit. Handbuch zur Veränderung des persönlichen
Lebensstils. 2., verb. Auflage, Wien 2000.
Michael
Jäckel: Einführung in die Konsumsoziologie. Fragestellungen - Kontroversen –
Beispieltexte. 2., überarb. und erw. Auflage, Wiesbaden 2006.
Hans-Jürgen
Lange; H. Peter Ohly; Jo Reichertz: Auf der Suche nach neuer Sicherheit.
Fakten, Theorien und Folgen. 2., Wiesbaden 2009.
Uwe
Schultz [Hrsg.]: Speisen, Schlemmen, Fasten. Eine Kulturgeschichte des Essens
[nach einer Sendereihe des Hessischen Rundfunks]. 2. Auflage, Frankfurt am Main
[u.a.] 1995.
Justus
Nipperdey; Katharina Reinholdt [Hrsg.]: Essen und Trinken in der Europäischen
Kulturgeschichte. Berlin 2016.
Axel
Michaels: Die Kunst des einfachen Lebens. Eine Kulturgeschichte der Askese.
München 2004.
Herrad
Schenk [Hrsg.]: Vom einfachen Leben. Glücksuche zwischen Überfluß und Askese.
München 1997.
Wilhelm
Schmid-Bode: Maß und Zeit. Entdecken Sie die neue Kraft der klösterlichen Werte
und Rituale. Frankfurt am Main [u.a.] 2008.
[1] Vlg.
Engadiner Kollegium [Hrsg.]: Die unersättliche Gesellschaft. Wieviel Konsum
verträgt der Mensch? Freiburg im Br.; Wien [u.a.] 1992, S. 62.; Wolfgang
Schmidbauer: Weniger ist manchmal mehr. Zur Psychologie des Konsumverzichts.
vollständig überarb. u. erw. Neuausgabe, Reinbek bei Hamburg 1992, S. S.135.;Gabriele
Sorgo [Hrsg.]: Askese und Konsum. Wien 2002, S. 145.
[2]
Vlg. Engadiner Kollegium 1992, S. 51f.
[3]
Vgl. Sorgo 2002, S. 145f.
[4]
Vgl. Engadiner Kollegium 1992, S. 61f.
[5]
Vgl. Sorgo 2002, S. 139f.
[6]
Vgl. Jens Förster: Was das Haben mit dem
Sein macht: Die neue Psychologie von Konsum und Verzicht. München 2015, S. 106.
[7]
Vgl. ebd. S. 155f.
[8] Vgl.
ebd. S. 14.
[9]
Vgl. ebd. S.106.
[10]
Vgl. Förster 2015, 106f.; Schmidbauer 1992, S. 138, 144.
[11]
Vgl. Förster 2015, S. 14.
[12]
Vgl. ebd. S. 142; Sorgo 2002, S. 139.
[13]
Vgl. Engadiner Kollegium 1992, S. 179ff.
[14] Vgl.
Sorgo 2002, S. 143, S.147-151.
[15]
Vgl. Schmidbauer 1992, S. 135, S. 138f.
[16]
Vgl. Förster 2015, S. 153, S. 205.
[17]
Vgl. Förster 2015, S. 119.
[18]
Vgl. Schmidbauer 1992, S. 136, S. 139, S. 142, S.144.
[19]
Vgl. ebd. S. 138.
[20]
Vgl. Carsten Wippermann: Religion, Identität und Lebensführung. Typische
Konfigurationen in der fortgeschrittenen Moderne; Mit einer empirischen Analyse
zu Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Opladen 1998, S. 38ff.; Förster 20015,
S. 117.
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