Expose





Exposé
Arbeitstitel:
Kaiser Franz Joseph I. als österreichischer ‚Erinnerungsort‘ in der Gegenwart
Universität Wien                                                                                                                                     Historisch-Kulturwissenschaftliche Fakultät                                                                                               Institut für Europäische Ethnologie                                                                                                                                                                                               PS Wissenschaftliches Arbeiten und Schreiben / STEOP B 130                                                                                                                 LV-Leiterin: Dipl.-Ing. Katrin Ecker, MA


Marie Hummer                                                                                                                                         Matrikelnummer: 1616508                                                                                                                                   E-Mail: marie.hummer@chello.at
WS 2016/17
22.1.2017











1.     Einbettung in Forschungskontext und gesellschaftlichen Kontext




Das „kollektive[s] Gedächtnis“[1] wird in vielen kulturwissenschaftlichen Einführungswerken, wie beispielsweise in jenem des Ethnologen Wolfgang Kaschuba[2], in Verbindung mit dem Identitätsbegriff ausführlich behandelt. Die thematische Eingrenzung erfolgt hin zur Beschäftigung mit den „lieu[x] de mémoire“[3] („Erinnerungsorte“[4]), wobei Pierre Noras Theorie der ‚lieux de mémoire‘[5] den Ursprung der wissenschaftlichen Auseinandersetzung bildet.



Forschungsgegenstand der geplanten Arbeit ist Kaiser Franz Joseph I., der als ‚Erinnerungsort‘ Österreichs bis in die Gegenwart sowohl wirtschaftlich und politisch als auch gesellschaftlich und medial präsent ist. Während die Literaturrecherche zur historischen Funktion des Kaisers als ‚Erinnerungsort‘, wie etwa zur Stärkung eines nationalen ‚kollektiven Gedächtnisses‘ in der Zwischen- und Nachkriegszeit, zu zahlreichen wissenschaftlichen Publikationen führt, ist erkennbar, dass die Auseinandersetzung mit dem Dynasten als ‚lieu de mémoire‘ in der heutigen Zeit oft nicht wissenschaftlich exakt und differenziert oder auf Empirie aufbauend erfolgt, sondern meist verallgemeinernd. Texte, welche die Habsburgerdynastie oder explizit Kaiser Franz Joseph behandeln, tragen entweder durch ausgeprägten Nostalgiecharakter oder durch historisch unpräzise Kritik, subjektiviert und sehr gegensätzlich beschreibend, zur Konstruktion des Erinnerungsort-Charakters Kaiser Franz Jospehs bei. Neuerscheinungen und museale Aufbereitungen, die den Monarchen thematisieren, sind insbesondere in den letzten Jahren zahlreich.





2.     Fragestellung




Ich untersuche die Präsenz Kaiser Franz Josephs I. als ‚Erinnerungsort‘ des nationalen ‚kollektiven Gedächtnis‘ Österreichs in der heutigen Zeit, um eine differenziertere aktualisierte Darstellung im Sinne tatsächlicher Interessensgruppen und genauer untersuchten Interessenslagen fern von Verallgemeinerungen, die in diversen Kontexten wie musealen Aufbereitungen und literarischen Auseinandersetzungen zu finden sind, zu diskutieren.

3.     Theoretischer Hintergrund


3.1  Erinnerung und Gedächtnis




Zugunsten einer exakteren als der alltäglichen Anwendung des Gedächtnis- und  Erinnerungsbegriffes erfolgt eine Explikation dieser.



Die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann unterscheidet zwischen einem „Speichergedächtnis“[6] im Sinne eines „Reservoir[s] der Möglichkeiten“[7] und einem „Funktionsgedächtnis“[8], die miteinander verbunden sind. Ersteres ist  ‚Ort‘ des „potentiell verfügbare[n]“, und letzteres jener des ausgewählten, aktuellen „Erinnerungsmaterial[s]“ [9]. Maßgeblich an der Konstruktion von Identität und Sinn beteiligt und somit für diese Arbeit relevant ist das Funktionsgedächtnis als „lebendige[n]“[10], „konkrete“[11], „gestaltende Erinnerung“[12] daher als ‚Ort‘ all dessen, das aus der Informationsfülle des Speichergedächtnisses ausgewählt in den „Vordergrund“[13] rückt. Diese Verschiebung kann ein „Prozess historischer Sinngebung“[14] sein, da Material durch die Aufnahme ins Funktionsgedächtnis „vergegenwärtig[t]“[15], vermittelbar als Teil von Erzähltem und zugunsten eigener Wahrnehmung und Darstellung von Identität als sinngebendes Element „aktualisiert“[16] wird[17].



Das Speichergedächtnis ist nach Assmann somit ‚Aufbewahrungsort‘ des „einmal Gedachten, Veräußerten und Toten“[18], das den Vorgang des Erinnerns ermöglicht und aus diesem resultiert, wohingegen das Erinnern selbst nicht dauerhaft ist und etwas Unstetiges, in der Gegenwart Ablaufendes beschreibt[19].



3.2  Kollektives Gedächtnis und Erinnerungsort




Maurice Halbwachs Idee eines „sozialen Gruppengedächtnisses“[20] ist in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein vollkommen neuer Forschungsansatz, wobei davon ausgegangen wird, dass das Gedächtnis nicht an ein Individuum gebunden ist, sondern auch von mehreren Menschen „geteilt[e]“[21] bestehen kann. Das „kollektive[s] Gedächtnis“[22] ist nicht ausschließlich als Eigenheit kleiner Kollektive zu denken, sondern genauso als in größeren, nicht zuletzt politisch konstruierten Gruppierungen bestehend. Gerade in diesen hat der ‚Erinnerungsort‘ in seinen verschiedensten Ausprägungen eine bedeutende Position, da jener für die Konstruktion des langsam „aufgebaut[en]“[23] Gedächtnisses, das nicht von Natur aus vorhanden ist, entscheidend ist.



Der ‚Erinnerungsort‘ kann als „Bezugspunkt[en] in der kulturellen Überlieferung“[24], der konkretisierende und verbindliche Wirkung auf die Gedächtnisbildung des Kollektivs ausübt[25], definiert werden. Er trägt neben verschiedenen Arten „praktizierter Zugehörigkeit“[26], Lernprozessen und anderen „Medien des Gedächtnisses“[27] zur Bildung einer Wir-Identität“[28], die nicht natürlich vorausgesetzt angenommen werden kann, bei[29]. 

Allgemein hängt die Auswahl des zu einem Teil des kollektiven Gedächtnisses Etablierten von der „Erinnerungskultur“[30] des jeweiligen Kollektivs ab[31].



Der ‚Erinnerungsort‘ darf nicht auf „Behälter- und Gebäudemetaphern“[32] reduziert betrachtet werden, sondern bezeichnet die „Materialisierung, Verräumlichung, Inkorporierung als Mittel der Gedächtnisbildung“[33] in vielerlei Hinsicht[34].



3.3  Museale Aufbereitung und Geschichtsverarbeitung als Teil des kollektiven Gedächtnisses




Das kollektive Gedächtnis durch kulturelle Vermittlung und Beschreibung von Geschichte zu aktualisieren, zu verändern und zu stabilisieren, erfolgt nicht zuletzt in musealen Aufbereitungen geschichtlicher Stoffe[35]. Die Beschäftigung mit der eigenen Geschichte ist wichtiger Bestandteil der Identitätsbildung eines Kollektivs[36], da diese zur Grenzziehung zu anderen Kollektiven hin und dem Erkennen vermeintlicher‚ gruppenspezifischer Merkmale‘ erforderlich ist[37]. Der Wunsch nach Individualisierung und Identität kann dazu führen, dass verklärte Aufzeigung vermeintlicher „Kontinuität“[38] im Sinne einer „Identität-über-die-Zeit“[39] statt einer sachlichen Berichterstattung über Geschehnisse und Thematiken der Vergangenheit erfolgt. Auch in der heutigen Zeit dienen solche Darstellungsweisen vielen Kollektiven zur Kompensierung eines Gefühls der „Abstraktheit, Uniformität und Ersetzbarkeit“[40].

4.     Methodik und Vorgehensweise       


4.1  Literaturgestützte Arbeit




Begriffsdefinitionen sollen möglichen Anwendungsschwierigkeiten der bedeutungsähnlichen und oft in der alltäglichen Welt synonym angewendeten Begriffe vorbeugen.



Die Einführung in die Thematik erfolgt literaturgestützt, historisch so wie auch auf die Gegenwart bezogen. Die Biographie Kaiser Franz Josephs I. und die Auseinandersetzung mit der letzten Regentschaftsperiode der Habsburgerdynastie in einer untergehenden Monarchie sollen möglichst wertungsfrei sein, wobei allein durch die Informationsbeschränktheit und Quellenauswahl selbstverständlich nicht von ‚objektiver‘ Darstellung ausgegangen werden kann.



Es werden die Anfänge einer Konstruktion zum Mythos und die historische Entwicklung der Repräsentation und der Mythos-Konstruktion des ‚ewigen Kaisers‘ nach 1916 aufgezeigt, indem systematisch die Repräsentationsindustrie ab der Regentschaft des Kaisers bis in die heutige Zeit beleuchtet und Gründe, Medien, Produzenten und Publikum des Mythologisierungsprozesses analysiert werden. Es wird der Frage nachgegangen, welche Werte Kaiser Franz Joseph personifiziert.



Im Sinne einer exakten Publikationsanalyse zur literarischen Darstellung Kaiser Franz Josephs und dessen Mythologisierung in aktuelleren Werken wird die Literatur nicht als kritiklos behandelte Quelle, sondern zur Aufzeigung von Diskrepanzen in der Literatur und der bestehenden Mythoskonstruktion anhand exemplarischer Beispiele verwendet. Neben der Offenlegung der aktuell nicht erfolgenden Entmythologisierung, wird Einblick in die Darstellungsvielfalt im Sinne eines Kontextes gegeben, in welchen dann auch unabhängig von Interpretation der Verfasserin die Aussagen und Gedankengänge der Interviewten eingeordnet werden können. Die verschiedenen Blickwinkel sollen gemeinsam mit der möglichst exakten historischen Darstellung dazu dienen, weg von einem als allein gültig empfundenen, im Grunde jedoch individuell konstruierten Bild des Kaisers und der Dynastie zu kommen und die den Interviews entnommenen Aussagen nicht vorschnell zu werten.



Es erfolgt die literaturgestützte Beantwortung der Forschungsfrage. Erklärungsansätze für die bestehende Faszination für den Monarchen sind in literarischen Publikationen zu finden, wenn auch in jenen, die im Zuge der Recherche bereits gelesen wurden, nur in kurzer, unpräzis gehaltener Form. Es wird nach Gründen für die bestehende Mythologisierung des ‚ewigen Kaisers‘, die Aufmerksamkeit der österreichischen Medienwelt sowie der Gesellschaft und nach möglichen Eingrenzungen auf spezifische Interessensgruppen in der Gegenwart gesucht.



4.2  Feldforschung – Qualitative Interviews




Es wird davon ausgegangen, dass durch eine Feldstudie zumindest in einem kleinen Ausschnitt Antworten auf die Fragestellung erhalten werden. Es besteht kein Anspruch auf allgemeine Gültigkeit und auf größere Felder ausweitbare Aussagen. Anhand der den Interviews entnommenen Informationen soll ein neuer, differenzierter Grenzziehungs- und Erklärungsversuch zu den Mitgliedern der Interessensgruppen, deren Beweggründe zur Auseinandersetzung mit Kaiser Franz Joseph bzw. in weiterer Folge zum Museumsbesuch, so wie zu erschaffenen Bildern und Vorstellungen zu Kaiser Franz Joseph erarbeitet werden. Ort der Interviews wird das Sissi-Museum in der Hofburg sein. An mehreren Tagen werden Besucherinnen und Besucher in offener Form befragt.



Einen weiteren Punkt stellt die Aufzeigung der Bedeutung und des Einflusses von musealen Darstellungen des Kaisers dar. So erfolgt neben narrativen Interviews die Auseinandersetzung mit der musealen Aufbereitungen und Fokussetzungen als Teil der Forschungsarbeit. Weiterführend wäre es von Interesse zu erfahren, wie die Befragten die Informationen, auf die sie das Bild stützen, erhalten, welche weiteren Medien, Einrichtungen oder Personen hier von Relevanz sind.



5.     Literaturliste




5.1  Verwendete Literatur




·         Emil Anghern: Kultur und Geschichte. Historizität der Kultur und kulturelles Gedächtnis. In: Friedrich Jaeger; Burkhard Liebsch [Hrsg.]: Grundlagen und Schlüsselbegriffe (= Handbuch der Kulturwissenschaften 1). Stuttgart; Weimar 2004, S. 385-400.

·         Aleida Assmann: Grundbegriffe der Gedächtnisforschung. In: dies.: Einführung in die Kulturwissenschaft. Grundbegriffe, Themen, Fragestellungen (= Grundlagen der Anglistik und Amerikanistik 27). 3., neu bearbeitete Auflage, Berlin 2011, S. 182-189.

·         Andreas Degen: Was ist ein Erinnerungsort? Zu Begriff und Theorie topographischen Erinnerns in politischer und phänomenologischer Hinsicht. In: Bernd Neumann; Andrzej Talarczyk [Hrsg.]: Erzählregionen. Regionales Erzählen und Erzählen über eine Region. Ein polnisch-deutsch-norwegisches Symposium. Aachen 2011, S. 70-91.

·         Pierre Nora: Les Lieux de mémoire. Paris 1997.

·         Wolfgang Kaschuba: Einführung in die Europäische Ethnologie. München 2012.



5.2  Weiterführende Literatur




·         Roland Bässler: Die Interviewführung. In: ders.: Qualitative Forschungsmethoden. Leitfaden zur Planung und Durchführung qualitativer empirischer Forschungsarbeiten (= Wissenschaftliches Arbeiten 3). 3., überarbeitete und erweiterte Auflage, Wien 2014, S. 64-67. 

·         Thomas Etzemüller: Konstruktionen der Biographie. In: ders.: Biographien. Lesen - erforschen – erzählen (= Historische Einführungen 12). Frankfurt am Main [u.a.]  2012, S. 102-126.

·         Christian Gudehus; Ariane Eichenberg; Harald Welzer [Hrsg.]: Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart; Weimar 2010.

·         Brigitte Hamann: Franz Joseph und Elisabeth. In: dies.: Österreich. Ein historisches Portrait. München 2009, S. 79-90.

·         Heinz-Dieter Heimann: Franz Joseph I. Symbol der Donaumonarchie. In: ders.: Die Habsburger. Dynastie und Kaiserreiche. 4. Auflage, München 2016, S. 99-106.

·         Hannes Leidinger; Verena Moritz; Berndt Schippler [Hrsg.]: Schwarzbuch der Habsburger. Die unrühmliche Geschichte eines Herrscherhauses. Innsbruck; Wien 2010.  

·         Katrin Unterreiner: Kaiser Franz Joseph I. In: dies.: Die Habsburger. Mythos & Wahrheit. Graz; Klagenfurt; Wien 2011, S. 63-100.

·         Dietmar Pieper; Johannes Saltzwedel [Hrsg.]: Die Welt der Habsburger. Glanz und Tragik eines europäischen Herrscherhauses. Hamburg; München 2011.

·         Michaela Vocelka; Karl Vocelka: Franz Joseph I. Kaiser von Österreich und König von Ungarn. 1830 – 1916. Eine Biografie. München 2015.









[1] Aleida Assmann: Grundbegriffe der Gedächtnisforschung. In: dies.: Einführung in die Kulturwissenschaft. Grundbegriffe, Themen, Fragestellungen (= Grundlagen der Anglistik und Amerikanistik 27). 3., neu bearbeitete Auflage, Berlin 2011, S. 182-189, hier S. 189.
[2] Wolfgang Kaschuba: Einführung in die Europäische Ethnologie. München 2012.
[3] Kaschuba 2012, S. 172.
[4] Andreas Degen: Was ist ein Erinnerungsort? Zu Begriff und Theorie topographischen Erinnerns in politischer und phänomenologischer Hinsicht. In: Bernd Neumann; Andrzej Talarczyk [Hrsg.]: Erzählregionen. Regionales Erzählen und Erzählen über eine Region. Ein polnisch-deutsch-norwegisches Symposium. Aachen 2011, S. 70-91.
[5] Pierre Nora: Les Lieux de mémoire. Paris 1997.
[6] Emil Anghern: Kultur und Geschichte. Historizität der Kultur und kulturelles Gedächtnis. In: Friedrich Jaeger; Burkhard Liebsch [Hrsg.]: Grundlagen und Schlüsselbegriffe (= Handbuch der Kulturwissenschaften 1). Weimar; Stuttgart 2004, S. 385-400, hier S. 393.
[7] Ebd.
[8] Ebd.
[9] Ebd.
[10] Ebd. S. 392.
[11] Ebd. S. 393.
[12] Ebd.
[13] Ebd.
[14] Ebd.
[15] Ebd. S. 392.
[16] Ebd. S. 393.
[17] Vgl. ebd. S. 392f.
[18] Assmann 2011, S. 182.
[19] Vgl. ebd. S. 182.
[20] Ebd. S. 189.
[21] Ebd.
[22] Ebd.
[23] Anghern 2004, S. 393.
[24] Assmann 2011, S. 189.
[25] Vgl. Anghern 2004, S. 394.
[26] Assmann 2011, S. 189.
[27] Anghern 2004, S. 394.
[28] Assmann 2011, S. 189.
[29] Vgl. Ebd.
[30] Angherm 2004, S. 393.
[31] Vgl. ebd.
[32] Ebd. S. 394.
[33] Ebd.
[34] Vgl. ebd.
[35] Vgl. ebd. S. 393.
[36] Vgl. ebd. S. 394.
[37] Vgl. ebd. S. 396.
[38] Ebd. S. 397.
[39] Ebd.
[40] Ebd. S. 396.



2

Thematische Eingrenzung




Einzelpersonen sowie kleine und große Gruppierungen verzichten temporär oder über längere Zeit, auf verschiedensten Beweggründen basierend, auf gewisse Lebensmittel oder stellen die gesamte Nahrungsaufnahme ein.

Die bekannteste und älteste Form des freiwilligen Nahrungsverzichts ist das religiös motivierte Fasten, das in vielen Religionen Weg zur Erkennung der Wahrheit darstellt[1]. Im Christentum hat  Askese in den Anfängen eine große Bedeutung und ist, wenn auch immer wieder neu gestaltet, von jeher ein hochangesehener Aspekt der Religionsausübung[2]. Von außen erfährt das religiös motivierte Hungern Kritik[3], wobei Theologen auf die Askese im Sinne einer Öffnung hin zum Wirklichen im Gegensatz zur einfachen Reduzierung der Nahrungsaufnahme hinweisen[4].

Dass die Zahl an Menschen, die aus religiöser Überzeugung fasten, in der modernen Zeit zurückzugehen scheint, bedeutet nicht, dass das Thema des Nahrungsverzichts an Aktualität und Weitreiche verliert. Bewusste Ernährung im Sinne der Selbstverwirklichung, körperlichen und geistigen Gesundung, sowie als Aspekt der Weltverbesserung ist hochaktuell. Der Reiz des Verzichts aus verschiedensten Gründen und mit unterschiedlichen Zielen verhält sich proportional zum Reichtum und Überfluss einer Gesellschaft.[5] Studien belegen dies zu Genüge, denn Askese und Verzicht sind vielfach untersuchte Trends der modernen Zeit[6].

Verzicht zeugt von Prävention, gestützt durch ein wachsendes Risikobewusstsein. Die eigene Gesundheit, und oft auch die gefährdete Umwelt, sollen vor negativen Entwicklungen geschützt werden. Doch gibt die Sicherheit der wohlhabenden Gesellschaft auch die Möglichkeit zur Promotion, zu dem Streben nach körperlichen und geistlichen Idealen und der Erfüllung von Wünschen.[7] In Internetforen und mithilfe anderer Medien der Kommunikation bilden Verzichtende ein wachsendes Netzwerk[8].

Drei Phänomene der modernen Wohlstandsgesellschaft sollen behandelt werden. Oft stehen reglementierte Ernährungsweisen, im Sinne eines freiwilligen Verzichts auf bestimmte Nahrungsmittel oder Zubereitungsarten[9], in Verbindung mit einer umweltschonenderen Lebensweise und antikapitalistischer Haltung[10]. Neben jenen konsumkritischen Communities[11] lassen sich Menschen mit anderen Beweggründen, wie einer Gewichtsabnahme[12] oder asketischen Zurückhaltung hin zur Selbsteinsicht[13] ausmachen. Auch all jene, bei denen Askese zur selbstzerstörerischen Krankheit mutiert, sollen Erwähnung finden[14].

Vergleicht man die drei genannten Formen mit religiösem Fasten sind die Beweggründe zum Verzicht auf Nahrung zwar – bei einer Ausprägung mehr, bei der anderen weniger – sehr unterschiedlich von jenen des Fastens, doch zeugen alle vier Arten des Verzichts von einer von Epochen unabhängigen, positiv apostrophierten Vorstellung von den Auswirkungen von diesem auf das Individuum und dem stetigen Interesse an Reglementierung der eigenen Ernährungsweise[15], dem Wunsch nach mehr Sicherheit und Kontrolle des eigenen Lebens und Umfeldes[16].

Alle vier vorgestellten Typen der Askese sind Teile größerer Gewebe der Lebensgestaltung und Sinngebung[17], so sind Erwartungen an die Veränderung des Essverhaltens geknüpft[18], so wie der Wunsch nach Differenzierung im Sinne einer Selbstfindung und -optimierung[19], aber auch nach sozialer Zugehörigkeit und Akzeptanz[20].

Mich interessiert der Kontext, in den Mahlzeiten und Lebensmittel gebettet werden, welche Ideen und Vorstellungen Nahrungsverzicht symbolisiert, welche Hoffnungen und Erwartungen mit diesem einhergehen. Ich möchte neben den Unterschieden insbesondere Zusammenhänge der Gruppierungsprozesse, Selbstverortungen, Identitätsbildungen, Verhältnisse vom Individuum zur Gemeinschaft, Wertsysteme und Reglementierungen herausarbeiten, die, sind sie auch nicht derart offensichtlich, vielleicht zahlreicher sind, als angenommen. So werden alle Typen des Verzichts als soziale Praxis der Selbstverortung betrachtet.

Als Literatur dient neben Fachtexten eine Auswahl an Ratgebern zu eben jener, immer mehr Menschen attraktiv erscheinenden, auf Verzicht basierenden Lebensweise, Internetforen, Blogs und theologische Texten zur Fastenzeit im Christentum.

Literaturverzeichnis [Exposé]




Engadiner Kollegium [Hrsg.]: Die unersättliche Gesellschaft. Wieviel Konsum verträgt der Mensch? Freiburg im Br.; Wien [u.a.] 1992.

Jens Förster:  Was das Haben mit dem Sein macht: Die neue Psychologie von Konsum und Verzicht. München 2015.

Wolfgang Schmidbauer: Weniger ist manchmal mehr. Zur Psychologie des Konsumverzichts. vollständig überarb. u. erw. Neuausgabe, Reinbek bei Hamburg 1992.

Gabriele Sorgo [Hrsg.]: Askese und Konsum. Wien 2002.

Carsten Wippermann: Religion, Identität und Lebensführung. Typische Konfigurationen in der fortgeschrittenen Moderne; Mit einer empirischen Analyse zu Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Opladen 1998.

 


Literatur




Jessi Andricks: Detox 101. A 21-day guide to cleansing your body through juicing, exercise, and healthy living. New York 2014.

Eva Barlösius: Soziologie des Essens. Eine sozial- und kulturwissenschaftliche Einführung in die Ernährungsforschung. Weinheim; München 1999.

Peter Brown: Die Keuschheit der Engel. Sexuelle Entsagung, Askese und Körperlichkeit im frühen Christentum. München 1994.

Rudolf Ginters: Werte und Normen: Einführung in die philosophische und theologische Ethik: Göttingen ;  Düsseldorf 1982.

Reimer Gronemeyer: Die neue Lust an der Askese. Berlin 1998.

Dan Jakubowicz: Genuß und Nachhaltigkeit. Handbuch zur Veränderung des persönlichen Lebensstils. 2., verb. Auflage, Wien 2000. 

Michael Jäckel: Einführung in die Konsumsoziologie. Fragestellungen - Kontroversen – Beispieltexte. 2., überarb. und erw. Auflage, Wiesbaden 2006. 

Hans-Jürgen Lange; H. Peter Ohly; Jo Reichertz: Auf der Suche nach neuer Sicherheit. Fakten, Theorien und Folgen. 2., Wiesbaden 2009.

Uwe Schultz [Hrsg.]: Speisen, Schlemmen, Fasten. Eine Kulturgeschichte des Essens [nach einer Sendereihe des Hessischen Rundfunks]. 2. Auflage, Frankfurt am Main [u.a.]  1995.

Justus Nipperdey; Katharina Reinholdt [Hrsg.]: Essen und Trinken in der Europäischen Kulturgeschichte. Berlin 2016.

Axel Michaels: Die Kunst des einfachen Lebens. Eine Kulturgeschichte der Askese. München 2004.

Herrad Schenk [Hrsg.]: Vom einfachen Leben. Glücksuche zwischen Überfluß und Askese. München 1997.

Wilhelm Schmid-Bode: Maß und Zeit. Entdecken Sie die neue Kraft der klösterlichen Werte und Rituale. Frankfurt am Main [u.a.] 2008.





[1] Vlg. Engadiner Kollegium [Hrsg.]: Die unersättliche Gesellschaft. Wieviel Konsum verträgt der Mensch? Freiburg im Br.; Wien [u.a.] 1992, S. 62.; Wolfgang Schmidbauer: Weniger ist manchmal mehr. Zur Psychologie des Konsumverzichts. vollständig überarb. u. erw. Neuausgabe, Reinbek bei Hamburg 1992, S. S.135.;Gabriele Sorgo [Hrsg.]: Askese und Konsum. Wien 2002, S. 145.
[2] Vlg. Engadiner Kollegium 1992, S. 51f.
[3] Vgl. Sorgo 2002, S. 145f.
[4] Vgl. Engadiner Kollegium 1992, S. 61f.
[5] Vgl. Sorgo 2002, S. 139f.
[6] Vgl. Jens Förster:  Was das Haben mit dem Sein macht: Die neue Psychologie von Konsum und Verzicht. München 2015, S. 106.
[7] Vgl. ebd. S. 155f.
[8] Vgl. ebd. S. 14.
[9] Vgl. ebd. S.106.
[10] Vgl. Förster 2015, 106f.; Schmidbauer 1992, S. 138, 144.
[11] Vgl. Förster 2015, S. 14.
[12] Vgl. ebd. S. 142; Sorgo 2002, S. 139.
[13] Vgl. Engadiner Kollegium 1992, S. 179ff.
[14] Vgl. Sorgo 2002, S. 143, S.147-151.
[15] Vgl. Schmidbauer 1992, S. 135, S. 138f.
[16] Vgl. Förster 2015, S. 153, S. 205.
[17] Vgl. Förster 2015, S. 119.
[18] Vgl. Schmidbauer 1992, S. 136, S. 139, S. 142, S.144.
[19] Vgl. ebd. S. 138.
[20] Vgl. Carsten Wippermann: Religion, Identität und Lebensführung. Typische Konfigurationen in der fortgeschrittenen Moderne; Mit einer empirischen Analyse zu Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Opladen 1998, S. 38ff.; Förster 20015, S. 117.

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