Erzählen aus der Sicht des personellen Er-Erzählers



24. Dezember 2015, in der Nähe von Paris
24. 24 Mal. Armer Kerl. Einmal hätte gereicht. Einmal richtig getroffen und den hätte es genauso niedergelegt. Aber nein, 24 gottverdammte Wunden. 24 Treffer. Die Zeilen noch einmal zu überfliegen war das einzige was einem da noch einfiel. Da stand es tatsächlich. 24 Schüsse hatten einen gewissen Charles Jaspar Douesten niedergelegt.
Beson schnaubte und strich sein eigentlich kaum vorhandenes Haar aus seiner Stirn. Da sitzt man an Heiligabend in einer Polizeistation, statt mit im warmen festlichen Wohnzimmer, umgeben von Aktenstößen statt von der geliebten Familie und dann muss man auch noch sowas lesen. Ja natürlich, man hätte auch ablehnen können, als der Dienst für diesen besonderen Abend angeboten wurde, aber um ehrlich zu sein war das Angebot zu verlockend. Beson hätte sich zwar durchaus als Familienfreund bezeichnet, aber er war nicht unbedingt Freund seiner Familie im speziellen. Vor ein paar Jahren hatte er erkannt, dass der Kaffee aus dem Automaten dem von der Mutter durchaus das Wasser reichen konnte und, dass der Pizzadienst auch Heiligabends wunderbare Dienste leistete und dem die Pizza nie verkohlte. Und der Truthahn der Mutter der verkohlte. Und das regelmäßig, seit sie die Küchenuhr nicht einmal mehr hörte, wenn man sie ihr um den Hals hängte.
Und die liebe Schwester, die sich schon sehr gefreut hätte, wenn man dabei wäre, wenigstens dieses eine Jahre, jetzt wo der Kleine auch schon so groß ist und der Große doch schon sehr groß, und jetzt, wo das vielleicht das letzte Mal ist an dem alle so zusammen kommen, weil ja die Mutter doch schon, also nicht das man unbedingt sagen will, aber eben doch schon eben so ist, die ruft man einfach an und wünscht nur das Beste. Beson hatte erkannt, dass wenn er dann noch klagend einwarf, dass er es nächstes Jahr wirklich versuchen würde zu kommen und der Chef ein Idiot ist, niemand böse war und alles glatt lief.
Auch das mit den Akten ordnen kannte er schon, Vorfälle längst vergangener Zeiten, die sorgfältig aufbewahrt wurden und jedes Jahr einmal geordnet gehören. Beson mochte dies. Es war wie gute Krimis lesen, wo in Stichworten und ausgeschmückt mit den interessantesten Bildern, auf einer A4 Seite alles mit Auflösung des Falles verzeichnet war. Doch das Feld, in dem die Auflösung sonst notiert war und die Bestätigung für die Abgeschlossenheit des Falles waren nicht ausgefüllt. Der Fall wurde 1941 behandelt. Es war durchaus typisch, dass Fälle, die in diese bestimmten Jahre fielen, irgendwann einfach verstaut wurden, weggelegt ohne Aufklärung, als wären sie Teil einer Zeit gewesen, die sobald sie zuende ging, nicht mehr als stattgefunden wahrgenommen wurde. Aber das waren meistens kleine Angelegenheiten. Ein Raub, ein Nachbarsstreit. Aber 24 Schüsse? Und das in ein und dieselbe Person?
Douesten. Einen Douesten kannte der Computer. Gedichtet hat der und Lesungen hat der gemacht. Ein Kritiker nannte ihn einen „verlorenen Spätromantiker“. Biografien fand der Beson nicht. Nur eine, die Douestens Jahre in New York beschrieb. Wenig aufschlussreich. Wenig Informationen. Hatte nur ein kleines Publikum der Douesten, wenig Aufmerksamkeit. 24. 24 Schüsse. Aus 24 Waffen, wohlgemerkt. Das sah Beson nicht gerade nach wenig Aufmerksamkeit aus.

25.12.16

Besons erster Blick fiel auf die angelaufene Fensterscheibe. Eine dreckige Glasscheibe, darüber ein überflüssiger Ventilator. Als hätte jemals irgendjemand angenommen, dass einen hier die Hitze plagt. Es lag an der Straße, so verdammt schmal war die. Sich zwischen die Häuserdächer zu quetschen, um sie auszuleuchten war der Sonne viel zu aufwendig. Sie hatte entschieden die Rue Bretagne im Dunklen zu lassen. Konnte man ihr bei Gott nicht verübeln. War vielleicht besser so, ekelerregende Bars, Nachtclubs, die den ganzen Tag geöffnet hatten und am unteren Ende der Straße ein Lebensmittelhändler, der Ablaufdaten für eine Verschwörung und Gentechnik für einen Mythos hielt, darauf einen Scheinwerfer zu setzen wäre ohnehin unangenehm für Passanten und die Besucher der zwielichtigen Lokalitäten waren wahrscheinlich recht glücklich darüber so unbemerkt in ihre liebsten Etablissements zu schlüpfen. Hinein kriechen und herauskriechen, unbemerkt wie Kellerasseln. Fuhr Beson abends mit dem Dienstwagen zur Station und das Licht der Scheinwerfer fiel auf den schmalen Gehsteig huschten sie weg, wie die Insekten verschwanden sie in ihren Nischen. Dieses Spielchen ging schon seit Jahren. Eigentlich seit Besons erster Dienstfahrt. Stolz hatte er damals empfunden. Er war der Rattenfänger. Nein er war noch mehr. Er war der Rattenfänger im Mercedes. Er war der Rattenfänger mit der blauen Kappe. Nun machten die weghuschenden Gestalten in höchstens müde. Ja, es zehrte an seinen Nerven. Als wussten sie nicht ohnehin, dass auf dem Beifahrersitz ein frisches Baguette und eingelegte Zwiebeln auf den Beson warteten. Ohnehin ließ er solche Gaumenfreuden ungern auf sich warten, aber die Vorstellung für ein paar Gramm Gras oder eine illegal angestellte Asiatin unpünktlich zum Hauptabendprogramm zurück zu sein um dann in ein ausgetrocknetes Brot zu beißen zerriss ihm förmlich das Herz.

Vorsichtig setzte er seine rechte Fußspitze auf den Gehsteig. Schnee knirschte unter seinen schweren Schritten. Er hatte durch das Fenster nicht erkannt, dass es über Nacht geschneit hatte. Schnee und Regen vergaßen die Rue Bretagne nicht, Schneeräumungsfahrzeuge jedoch meistens. Zurück in die Station, die Schaufel aus dem Gerümpel ausgraben und dann im Schritttempo durch halb Paris nachhause. Beson entschied sich für einen Spaziergang. Raus aus der Rue Bretagne fiel ihm wieder ein, dass Weihnachten war. In den Schaufenstern hangen bunte Christbaumkugeln, dazwischen Tannenzweige. Aus dem ein oder anderen Café hörte man festliche Lieder, Kinder liefen durch den Schnee oder in die Geschäfte, grapschten auf die Stofftiernasen oder in die mit Schokoladegefüllten Regale. Mütter versuchten tadelnd ihnen die kleinen Schaufeln in die Hände zu drücken. Sie ließen sie einfach wieder fallen. Wozu sollten sie kleine Zellophansäckchen befüllen, wenn sie doch genauso vor Ort die Schokolade direkt in den Mund befördern konnten. Frohe Weihnachten. Maronis. 6 Stück. 2 Dutzend. Monsieur. Maronis. Der Geruch von Kohle und Mandeln, Maronis und Marzipan stieg Beson in die Nase. Seine Frau hatte früher Mandeln in Karamell erhitzt und die Wohnungen hatte noch Tage nach Fett und Zucker, Mandeln und ihrem Parfum gerochen. In den letzten Jahren hatte sie aufgehört. Sie hatte gemeint, in der Wohnung passte das nicht. Zu Weihnachten waren die Besons nie zuhause, Beson im schlimmsten Fall bei seiner Familie oder im besten auf der Station und sie bei ihrer. Es war eine Einigkeit entstanden die Wohnung sozusagen Feiertagsimmun zu halten. Wozu sich etwas vormachen? Die Illusion von Festlichkeit erwecken wollen? Was nicht war das war eben nicht. Und Weihnachten, das Fest der Liebe, war bei den Besons eben nicht.

Beson wäre schon fast in die Straße, die zum Apartement führte eingebogen, hätte wie üblich Madame Rosande am Zeitungstand gegrüßt und Monsieur Voulieux, den unfreundlichen Straßenkehrer, nicht, hätte Brot geholt, wäre schnaufend die alte Treppe hinaufgestapft, hätte den Zustand in dem seine Frau die Wohnung bei ihrer Abfahrt hinterlassen hatte murmelnd kritisiert und sich auf das Sofa gelegt. Doch da fiel er ihm ein. Douesten. Gott hab ihn seelig. Der arme Kerl. Er hatte etwas über ihn herausfinden können. Gut nach kurzer Recherche war er so müde gewesen, dass er eingenickt war, doch er hatte etwas herausgefunden. Nicht nur Schriftsteller war der Gute gewesen. Monkeys hieß eine Bar in Montparnasse und deren Inhaber war ein gewisser Douesten. Hoffentlich derselbe.

Die Adresse fand man leicht. Ein Billiardlokal war nun im Erdgeschoß des schäbigen Hauses. Über dem Tresen lehnte eine junge Frau. Sie war alleine. Kein Wunder. So ein Lokal am Vormittag. Falls sie verwundert war über den frühen Besucher ließ sie es sich nicht anmerken. Sie richtet sich nicht einmal auf. Blonde Stirnfransen verdeckten ihre Augen. Sie lugten hinter ihnen hervor, desinteressiert und müde. Der Monsieur trat näher. Räusperte sich. Dann erneut. Orderte ein Bier. Dann noch eins. Er war her gekommen, um zu fragen. Zu recherchieren. Aber bei Gott was wollte er denn überhaupt herausfinden?



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