Kurzkrimi


Naturdenkmal 441 oder eine Kurzgeschichte über Saure Wurst

1

Als die Bäume vor seinen Augen zu tanzen begannen, wusste er, dass es das nun gewesen war.

Sie krümmten sich, streckten die dünnen Äste mit den von der Hitze ausgetrockneten Blättern gen Himmel, wiegten sich lachend zum Rhythmus der Tiere, die trällernd und fiepend, ächzend und brüllend den Totentanz tanzten. Seinen Totentanz. Es graute ihm und er verspürte den Druck in seinen Schläfen, pulsierende Adern; und der Wald ging vor seinen Augen in Flammen auf, rot lodernden die Wipfel. Wie ein leises Echo vernahm er das Lachen, das Jauchzen, wie in einem weiten Korridor. Er fiel.

Das Aufkommen seines Körpers, der sich schwammig und undefiniert anfühlte, gerade so als würde er in seine Umgebung zerfließen, machte ein dumpfes Geräusch, doch er empfand eine unbeschreibliche Sanftheit, mit der er auf sein steinernes Bett fiel; die Wärme, Erinnerung an den mütterlichen Schoß. All die Schmerzen, die noch vor wenigen Sekunden seinen Körper wie weiches Wachs verformt hatten, an ihm gezerrt und gezogen hatten, versammelten sich zornig, leise murmelnd in seinem Magen, der genau wie der Wald Feuer fing. Wenige dumpfe Schreie, dann waren alle Schmerzen zu Asche geworden, bloß Diener des wohlig warmen Kaminfeuers, das die Innenwände seines Magens umspielte.

Doch dann gewann es an Raum, die Flammen reichten weit in seinen Brustkorb. Wasser. Er wand seine Zunge in der Luft, bohrte seine Fingerkuppen in die Erde und bändigte mit tiefem Atemzug das Feuer. Alles in ihm verzehrte sich nach dem einzig notwendig scheinenden Element Wasser. Er fühlte, wie die Spitze einer hochlodernden Flamme seinen Gaumen erreichte, spuckte keuchend den letzten, trockenen Speichel, der tief aus seinem brennenden Rachen zu stammen schien. Dann stieß ihm das Feuer in die tränenden Augen. Er fing eine Träne mit seiner nach Flüssigkeit lechzenden Zunge. Die Flammen traten aus seinen Augen und explodierten wie Feuerwerkskörper über den verkohlten Wipfeln. Ein wenig Staub von der letzten Explosion rieselte in sein Auge und nahm ihm das Augenlicht. Und es wurde finster.

2

Sie spürte Erleichterung, denn hätte der Mann sich am oberen Rande des Steinbruchs ausgeruht, sich, wie sie es selbst gerne tat, auf dem von Sonne gewärmten Stein ausgestreckt, sein Gesicht, so wie sie ihres stets drehte, zu jener Stelle hingewendet, an der der wolkenlose Mittagshimmel durch die sonst dichten Baumkronen hindurchlugte, dann wäre ihr das unrecht gewesen. Denn es bestünde durchaus die Möglichkeit, dass er dem Bekanntenkreis ihre Familie, die seit Generationen in Mauer ansässig war, angehörte. In diesem Fall hätte er ihren Rückzugsort vielleicht beiläufig bei einem Plausch am Hauptplatz mit ihrer Mutter, verraten. Und wäre er ihr nicht bekannt, würde allein die Gefahr, dass ihn jener Platz, ab dem er ihn entdeckt hatte, gerade so wie es ihr geschehen war, stets wieder anzöge, und das obere Stück des Steinbruchs nicht mehr ihr allein als Rückzugsort diente, sie verärgern.

Doch er war tot. Die Erleichterung über seine Leblosigkeit war so groß gewesen, dass sie nun, da sie schon fast mit ihren Zehenspitzen seinen Arm berührte, erst verstand. Wenige Millimeter vor ihr lag eine Leiche, die Erste, die sie je gesehen hatte. Und so beugte sie sich hinunter bis sie ihm ganz nah war, berührte unabsichtlich seine Schulter, als sie ihre Fäuste Halt suchend vor sich ins hohe Gras stemmte. Sie hatte mit eiskalter Haut gerechnet, doch die seinige war von der Sonne warmgehalten und so wies nur die Blässe der hohlen Wangen, die dieselbe nebelgraue Farbe wie sein restliches Gesicht hatten, auf den Tod hin. Die wiegenden Baumwipfel störten sich in dem milchigen Blau seiner Augen spiegelnd die Ruhe des Gesichts. Die Krümmung des Spiegelbilds ließ einen glauben, man sähe ihnen die Sorge an, mit der sie sich über den reglosen Körper beugten.

Sie ließ ihren Blick über seinen weit gestreckten Hals, über dem die Haut wie Löschpapier spannte, zu seiner reglosen Brust hinwandern. Zum ersten Mal ein Schauer, das Gefühl, als tanzten Insekten über ihren Rücken. Es war als erwachte sie. Der Wald rauschte wieder vom Sommerwind gerüttelt, das Knacken zwischen den Ästen. Sogar die Hitze schien nun geräuschvoll summend im Gegensatz zu der Stille, die geherrscht hatte.

Sie besann sich, diesen Fund, so sehr sich in ihr ein Gefühl, des Besitzes von diesem, da sie ihn an jenem ihr liebsten Ort gemacht hatte, verankerte, melden zu müssen. Sie drehte sich, einige Schritte entfernt, ein letztes Mal um und ihre Hand fuhr in seine ausgewölbte Hosentasche, lautlos und vorsichtig, als könnte sie ihn wecken. Das schwere Portemonnaie glitt durch den Spalt zwischen den Tragriemen in ihre Umhängtasche. Die Äste fielen hinter ihr zusammen und machten den Pfad unerkennbar.

3

Als er verstand, dass es dem Mädchen, dessen Ruhe ihn zuerst an einen Streich denken ließ, wirklich ernst, die Leiche kein Hirngespinst eines Kindes war, ertappte er sich bei dem Versuch, sich mit beiden Händen über die kleinen Augen und somit sie und vor allem ihre Aussage aus seinem Blickfeld zu wischen. Eine Leiche. Er hasste alles, was unerwartet eintrat. Soeben noch die Buttersemmel in den Vormittagskaffee getaucht, befand er sich nun in einer Situation, die ihm nicht behagte, der er, wäre es irgend möglich gewesen, augenblicklich entflohen wäre.

Anders verhielt es sich bei seinem jüngeren Kollegen. Die Euphorie mit der dieser nun die Informationen des Mädchens entgegen nahm, bestätigte seinen Verdacht, an seiner Seite einen Maturanten, statt einen Polizisten zu haben.

Ein Seufzen begleitete seinen trägen Fall auf den Beifahrersitz. All die Jahre war ihm die Fahrt im Dienstwagen so lieb gewesen, aber auf dem Weg zu einer Leiche, verlor das eigentlich komfortable Ambiente jeglichen Reiz und seine Gedanken hingen schwer und matt an dem zurückgelassenen Viertel seiner Buttersemmel. Sie war ihm, als der Jüngere ihn mit sich gezogen hatte, in sein Häferl gefallen. Da lag sie nun, eingeweicht in kalten Kaffee. Der nun die Sirene, so schien im zumindest, übertönende Seufzer war vielleicht unpassend, endrutschte ihm jedoch trotzdem.

4

Er glaubte in Gestik und Gesprochenem des Mädchens, als dieses den Weg zur Leiche zeigte, Widerwillen zu erkennen, wobei er weniger das Gefühl hatte, es wolle sich den erneuten Anblick ersparen, sondern viel mehr, dass es all dies lieber für sich behalten hätte. Es schob die Äste vor sich auseinander und blieb reglos stehen. Sein älterer Kollege schnaubte. Soweit er das erkenne, sei hier niemand, man solle ihm Besseren belehren, falls es an der schwindenden Kraft seiner müden Augen liege, wobei er erneut den Verzicht auf den Kaffee erwähnte, doch er sehe hier niemanden.                                                                                                       Das Mädchen ging bloß langsam ein paar Schritte weiter. An dem Ort, auf den es nun, ihre Augen irritiert weitend, zeigte, lag tatsächlich niemand. Es schwieg und man vermutete ein kindliches Heischen nach Aufmerksamkeit. Es machte auch keine Anstalten, die angerückte Mannschaft von der Rückkehr zu den Parkplätzen abzuhalten. Sein Kollege bog schon die Äste auseinander, um den Pfad retour zu nehmen, als ein Mitarbeiter nach Luft schnappte.

Am Boden des Steinbruchs lag, das Gesicht nach unten gedreht, ein toter Mann, über den sich der von der steinernen Wand geworfene Schatten wie eine schützende Decke legte. Dort sei er nicht gelegen. Stammelnd schnappte es nach Luft. Es müsse sich um einen Fall handeln, keinen Sprung. Er müsse gefallen sein, und dies nach seinem Tod. An jenem Ort sei er nicht gelegen. Die Pupillen des Mädchens sprangen irritiert von einem zum anderen. Man bat es zu gehen. Jegliche Begleitung lehnte es entschieden ab. Man begann bereits mit dem Abstieg und sein älterer Kollege hatte sich auf einen Baumstumpf platziert, als Zweifel an der Entlassung des Kindes laut wurden. Der Kollege schüttelte bei Worten wie psychologischer Betreuung bloß den Kopf. Die Anderen waren jedoch überzeugt, woraufhin sie, ihn, den Jüngsten und vor allem Unerfahrensten, baten, es einzuholen und doch die übliche Vorgangsweise nach Vorfällen dieser Art zu verfolgen. Es kostete einige Mühe, nicht zu erwähnen, dass man als einziger reagiert, die notwendigen Vorkehrungen getroffen hatte.

Das Mädchen, schnellen Schritts zurück zur Straße eilend, machte an der Gabelung, die schon fast am Waldrand lag, Halt. Er hatte es noch nicht eingeholt und ausreichende Entfernung ermöglichte ihm eine unbemerkte Beobachtung. Während es mit einer schnellen Bewegung die Tasche öffnete, schaute es sich um und er glaubte in seinem Blick nichts von jenem kindlich Verwirrtem seiner geweiteten Augen beim Erreichen der leeren Stelle, zu erkennen. Auch ein Blick auf den Gegenstand, den es herauszog, blieb ihm verwehrt, doch nachdem es ein wenig mit gesenktem Kopf, gerade so als läse es konzentriert, dagestanden war, entschied es sich für den anderen Pfad.

Etwas sagte ihm, dass es nun wichtiger sei, dem Mädchen zu folgen, als es direkt anzusprechen, es war eine Ahnung, die ihn an dem vielleicht korrekteren Weg hinderte, das Gefühl, sich in einem Gespräch leicht von dem Kind einschüchtern zu lassen.

5

Wer heute bereits eine saure Wurst bestellt habe, zu Trinken einen Limettenradler.  Das Mädchen war hereingekommen, keine Bestellung, bloß der direkte Weg hinter die Theke. Eigentlich stand es schon mehr oder weniger in der Küche, die es einer genauen Inspektion zu unterziehen schien, während es ungeduldig eine Antwort erwartete. Was sie hören wolle. Sicher fünfzehn Mal habe er heute schon die Saure Wurst serviert.  Doch das Kind meinte er solle genauer überlegen, sich an eben jene Bestellung erinnern. Ihm platze der Kragen, seit über 30 Jahren Inhaber der renommiertesten Gaststätte, wenn auch zugegeben der einzigen dieses Abschnitts des Maurer Waldes. Ihm fehlte jegliche Zeit für dieses Mädchen, das ihm, der sich schon unzählige Bestellungen inklusive individueller Wünsche gemerkt hatte, regelrecht befahl, sein trainiertes Gedächtnis zu durchsuchen.

Nicht das er seinen Gedanken gern erlaubte um dieses Thema zu ranken, er wollte sich im Prinzip von dem bald eröffnenden Biowirten, seinem ersten Konkurrenten, nicht aus der Ruhe bringen lassen, doch für das Kind, das keinen Gewinn brachte, blieb nun doch keine Zeit. Er schob sich demonstrativ abgewandt mit vollem Tablett an ihm vorbei, in der Hoffnung, bei seiner Rückkehr zur Theke wieder ungestört zu sein. Am Stammtisch kam jene ihm verhasste Frage über die Pläne des Fritz auf. Das hatte ihm heute noch gefehlt. Die Konkurrenz aus den eigenen Reihen, der eigene Koch, ein Freund vom eigenen Sohn, das war ihm Belastung genug. Als Informationsquelle zur Eröffnung von diesem Biogasthaus zu fungieren, führte unwillkürlich zur Missachtung des freundlichen Tonfalls.

Dass das Mädchen keine Anstalten machte zu gehen, hatte er bereits aus dem Augenwinkel bemerkt. Es machte ihn auf die außergewöhnliche Uhrzeit der Bestellung aufmerksam. 8.30 Uhr. Halb neun, das war wirklich früh, um genau zu sein sperrte er um diese Uhrzeit erst die Kasse auf, rückte den einen oder anderen Sesseln gerade, sprach einige Worte in der Küche. Aber nun da er zurückdachte, war er heute früher da gewesen, hatte mit Fritz einiges zu besprechen gehabt. Tipps hatte jener gewollt wegen dieser Neueröffnung, nur der Gedanke allein verursachte, dass sich ein unliebsames Gefühl in seinem Magen ausbreitete. Einem, der immer so fleißig gewesen war, hatte man schwer den Rat eines erfahrenen Wirts verwehren können. Doch dann war der erste Gast gekommen. Der Zweite war der Dritte gewesen, der dritte junge Mann im Bunde mit seinem Sohn und Fritz. Wie hieß er doch gleich? Ihm fiel auf, dass er schon gute fünf Minuten ein Weinglas polierte und er erkannte verärgert, sich doch von diesem gespannt lauschenden Kind aufhalten zu lassen. Paul. Paul Gerthalm oder Gertmann. Der habe Saure Wurst bestellt. Jetzt sei es aber genug mit der Gedächtniswühlerei. Die folgende und wie das Mädchen versicherte letzte Frage hatte etwas Absurdes. Ob es dem Paul geschmeckt habe. Sie habe seine Rechnung, sie solle ihn selbst fragen. Könne sie nicht, weshalb könne sie nicht sagen. Hauptsache er musste sich einem Verhör unterziehen. Geschmeckt hatte es ihm, das hatte ihn verwundert, eigentlich waren noch keinerlei Zutaten für die Mittagsgerichte vorhanden gewesen. Fritz Meinung, er könne leicht etwas aus den Resten zaubern, hatte ihn noch stutzig gemacht.

6

Der Telefonhörer sowie die Fähigkeit, ihre losen Gedankenfetzen zu Sätze zu verknüpfen, entglitten ihr beinahe, doch nur beinahe, nur für einen kurzen Augenblick, denn, dass sie wie ein Wasserfall plaudere, hatte es bereits in der Volksschule geheißen. Diese hatte auch Schauplatz ihrer ersten Begegnung mit Felizitas Gerharm gebildet, beste Freundinnen waren sie gewesen. Nun sah man sich dann und wann zum Kuchen bei Gerharms, wo zwar der Kaffee  zu lau war, die Gespräche dafür hitzig.

Felizitas Sohn war tot. Ingrids Stammeln, diese präzise Wortwahl, die unwillkürlich zu unvollständigen Sätzen führte. Die Neueröffnung eines Cafés in der Gesselgasse ließ die Freundin kalt, als sie ihr von den kinder- und daher auch mütterfreundlichen Besitzern erzählte, vernahm sie ein Schlucken Ingrids. Dann windeten sich die Sätze wie Schlangen durch die Leitung. Paul hatte sich das Leben genommen, ein Sturz in den Abgrund beim Naturdenkmal 441, ein Steinbruch aus der Jungsteinzeit.

Gekannt hatte sie ihn kaum, aber zu akzeptieren, dass die Einsicht in die wahre Gefühlswelt eines Menschen einem stets verwehrt blieb, erfüllte sie mit Trauer. Ihre eigene Ehrlichkeit führte dazu, dass ihren Einstieg in ein Gespräch immer die Wahrheit bildete, kein Interesse an oberflächlichem Gerede. Ihr einmal auf dem Kirtag über den Weg gelaufen, hatte Paul von dem Medizinstudium und dem Leben im Haus seiner Mutter erzählt. Er war fröhlich gewesen, ein charmanter Humor. Es war ihr noch der Gedanke gekommen, so solle es im Studentenalter sein, so unbeschwert solle man die Jugend genießen, die vielen offenen Türen. Nun hatten sich die Tore zur Zukunft für Paul geschlossen, er hatte sie bewusst versperrt, seine Entscheidung, sein Tod.

7

Ihre Mutter nahm Frau Gerharm bei Kaffee und Kuchen mit einer Flutwelle aus Wörtern so ein, dass der ungewöhnlich lange Toilettenbesuch des Mädchens nicht auffiel.

In Pauls Zimmer herrschte unheimliche, leblose Ordnung. Wären nicht Lichtstreifen durch die Jalousien in den Raum und die Stimme ihrer Mutter aus dem Garten zu ihr hinauf gedrungen, hätte es ihr beinahe gegruselt. Der Gedanke, dass sie, die Geldbörse aus der Hosentasche ziehend, die Leiche unabsichtlich verschoben und lediglich ein sachter Windstoß ausgereicht habe, den leblosen Körper in den Abgrund zu stürzen, ließ sie nicht los.

Sie fiel auf den Teppich, enttäuscht nichts Relevantes zu entdecken. Alles was sie wusste, war, dass es sich nicht um Selbstmord handelte, oder zumindest nicht um einen jener Art, von der die Polizei ausging. Wenn Paul sich das Leben genommen hatte, dann war es durch ein Gift gewesen. Sie schloss dies aus dem unversehrten Körper, den sie damals aufgefunden hatte.

Noch einmal das Portemonnaie in ihren Händen, fiel ihr das ausgebeulte Kleingeldfach auf, dessen Verformung ihr beim letzten Mal entgangen war. Darin befand sich ein Plastiksäckchen, in diesem ein Stück Wurst getränkt in Essig. Es hatten sich natürlich, da ungekühlt, alle Gerüche, die wie in einem Knäul, dass sie mit ihrer feinen Nase entwirrte, in dem Säckchen lagen, intensiviert hatten, doch sie glaubte sein saures Aroma ausmachen zu können.

8

Er fühlte die peinliche Berührung, die er, als Junge bei dem Lakritze Stehlen ertappt, verspürt hatte. Dieses kaum merkbar überhebliche Lächeln, natürlich hatte sie ihn, als er ihr zur Gaststätte nachspioniert war, bemerkt. Sie meinte, seine Spionage war ihr gänzlich egal, das zeigte zumindest, dass er neugierig war, neugieriger als sein älterer Kollege. Seine bequeme Arbeitsentstellung unterstreichend, brodelte die Kaffeemaschine leise im Raum nebenan.

Während er das Säckchen mit dem Wurststück zwischen seinen Finger drehte, erzählte sie von der anderen Stelle, an der unbeschadete Körper gelegen war. Sie zitierte ihre Mutter, die, nach einem zufälligen Antreffen Pauls, ausführlich von dem lebensfrohen Studenten geschwärmt hatte. Auch die Begebenheiten zu früher Stunde im Wirtshaus schilderte sie mit peinlich genauer Präzession. Sie gehe von Vergiftung aus. Selbstmord bliebe nun zwar Möglichkeit, doch der Tod, ausgelöst durch schlecht gewordene Lebensmittel scheine ihr plausibler. Diese seien möglicherweise unmerklich verdorben gewesen, der Wirt habe ihr erklärt, er habe um diese Uhrzeit noch nichts Frisches gehabt. Er zog eine Grimasse. Sie hatte bloß ein paar wenige Informationen, die sie durch spärliche Ermittlung erlangt hatte, zu einem Hirngespinst zusammengefügt. Ihr überheblicher Gesichtsausdruck nahm augenblicklich etwas kindlich Flehendes an. Sie brauche seine Unterstützung. Seufzend adressierte er ein Kuvert an das Labor.

9

Seine Freude über ein Gespräch mit der Polizei hielt sich in Grenzen, weniger des Polizeibeamten wegen, vielmehr war es das Sprechen an sich, vor dem er sich scheute. Beim Anblick des kleinen Mädchens hatte sein Vater sich geweigert, mit dem Polizisten und ihr zu sprechen. Er studierte demonstrativ abgewandt hinter der Theke die Ausgaben und Einnahmen des letzten Monats, eine Beschäftigung, die im Sommer ihren Reitz hatte. Seine Arbeit bestand aus mehr oder weniger notwendigen Hilfsarbeiten und Transportdienste, er hatte die unsichere Haltung eines Überflüssigen. Auch nun konnte er ruhig ein wenig wegbleiben, war entbehrlich. Fritz hatte in der Küche ohnehin weit mehr zu sagen, Sohn des Wirts war für ihn wie ein leerer Titel.

Er führte die beiden in den hintersten Winkel des Gartens. Dass Paul Anlass des außergewöhnlichen Besuchs war, verstärkte das übliche Unbehagen. Er fand selten für Etwas passende Worte, der Vorfall versetzte ihn in Sprachlosigkeit. Beste Freunde waren sie gewesen, Paul, Fritz und er, auch wenn er mit letzterem seit dem Plan eines eigenen Restaurants nicht mehr wie einst auskam. Paul war für immer gegangen, er selbst war, bevor er die Nachricht erhalten hatte, ahnungslos gewesen. Er schluckte. Als der Name des Toten laut ausgesprochen wurde, wie ein stechender Schmerz in sein Ohr drang und sich den Weg zu seinem Herz bahnte, war er den Tränen nahe. Er nahm einen kräftigen Schluck.

Die Leiche sei einer Untersuchung unterzogen worden. Botulismus, daran sei er gestorben. Das sei selten auftretende Fleischvergiftung, die zum Tod führe, wenn sie nicht rechtzeitig erkannt werde. Das Stück Fleisch, das Paul bei sich getragen habe, sei auf Wunsch des Mädchens ebenfalls untersucht worden, dieselben Bakterien, bei frischem Fleisch unmöglich. Es müsse aus einer Konserve gestammt haben. Der Tod, im Grunde untypisch früh eingetreten, weise auf einen außergewöhnlichen Krankheitsverlauf hin, doch sei nicht unmöglich und so sei es nun wichtiger, zu klären, weshalb Paul ein Stück Fleisch bei sich getragen hatte.

Er fühlte schmerzende Leere in seinem Kopf, Rauch der Gedanken umnebelte. Erst nach einiger Zeit glaubte er zu verstehen. Fritz kam ihm in den Sinn, dessen ständiger Wille, ihnen den Benutz des, laut ihm, vergifteten Fleischs auszureden. Ein niemals ausgeschöpft scheinendes Gesprächsthema seit Begriffe wie biologische Landwirtschaft, artgerechter Haltung und Umweltschutz ihn vereinnahmt hatten. Fritz hatte stets mit Aggressivität in seiner Stimme beteuert, er würde es anders machen als Besitzer eines solchen Betriebs. Nun werde er bald wirklich ein solcher sein, warb mit regionalen Produkten. Laut ihm, würden sie Augen machen, wenn die modernen Konsumenten zu ihm, statt zu ihnen kämen. Schlussendlich war es Vater gewesen, der die Entscheidung getroffen hatte, Fritz einen Strich durch die Rechnung zu machen. Ein Umstieg auf Produkte aus Freilandhaltung war wenig Aufwand gewesen.

Jedes Wort kostete ihn Mühe, besonders nun, da die Erklärung der Zusammenhänge mit Pauls Tod folgen musste. Paul habe neben dem Studium im Labor gearbeitet. Er betonte, dass er nun eine Vermutung aussprach, Fritz jedoch zwecks Ankurblung seines neuen Betriebs die, laut ihm, gefährliche, wenn auch schleichende Vergiftung durch verseuchte Gerichte schwarz auf weiß gehabt hätte. Das Fleisch wäre als Probe durchaus am geeignetsten gewesen, Vater bei Gott nicht wählerisch beim Einkauf. Eine Bestätigung die Fritz verwehrt geblieben war, sie waren ohne sein Wissen bereits komplett umgestiegen.

10

Ob er nun verstehe, dass die gezogenen Schlüsse nicht willkürlich, sondern klar durchdacht seien. Nein, er verstand nicht. Das einzige, was er ausmachen konnte, war die Verwirrung, die sein junger Kollege und das Mädchen, in ihm ausgelöst hatten, Zorn über zu schnell aneinander gefügte Beweise.

Er zerquetschte die mit Kaffee angesogene Semmel zwischen seinen Fingern. Was könne dieser Fritz dafür, dass keine frische Wurst da gewesen war und er auf eine alte Konserve zurückgreifen hatte müsse, dass in der jene Bakterien gewesen waren, diese Krankheit geschlummert hatte, um den nächsten Verzehrenden niederzustrecken? Ob er denn nicht verstehe. Nein! Die Lautstärke seiner Stimme ließ ihn selbst zusammenzucken, doch es fiel ihm schwer sich zu beherrschen. Die Semmel fiel in die Tasse, der Kaffee spritzte auf die ausgebreiteten Akten. 

Fritz habe den Toten absichtlich früh zu der Gaststätte bestellt, wissend, dass zu jener Tageszeit die neue Lieferung regionaler Produkte nicht eingetroffen sei. Dass diese wenige Tage zuvor in Auftrag gegeben worden war, habe er eher durch Zufall, ausnahmsweise beim Auspacken helfend, erfahren, schenkte man der Küchenhilfe Glauben. Ihm müsse bewusst gewesen sein, dass er so auf Reste zurückgreifen dürfe. Paul hätte daraufhin nachweisen sollen, dass das Fleisch qualitativ minderwertig sei, nicht von jenem Biobauern stammen könne, dessen Name seit wenigen Tagen auf der Tafel vor dem Gasthaus stehe. Über die wahre Intrige, die hinter seiner Mahlzeit gesteckt hatte, informiert, selbst daran glaubend, hätte er seine Hand dafür ins Feuer legen sollen. Folge wäre ein zumindest so großer Skandal gewesen, dass Fritz auf eine reichere Anzahl an Besuchern seines neuen Betriebes hoffen hätte können. Klang plausibel. Langsam schritt er zum Kühlschrank und holte die Butter, setzte das Wasser für den Kaffee auf, murmelte, ein Seufzer.                                                                                                                                                Gute Arbeit, wirklich gute Arbeit. Es war kaum hörbar. Er meinte es ernst, fügte er etwas lauter hinzu. Das kindliche Strahlen des jungen Polizisten schien so naiv und stumpfsinnig, dass er jedes Wort sogleich wieder bereute, das Mädchen zeigte sich hingegen desinteressiert.

11

Die Idee, den Täter oder zumindest mit einer hohen Überzeugung Verdächtigten zu überrumpeln, ihm die Theorie, den Verdacht, als Tatsache zu unterbreiten, sodass er sich eingeengt und durchschaut fühlen würde, stammte von dem Mädchen. Er war unsicher. Hatte er als junger Polizist zwar wenig Erfahrung, klang der Plan doch zu banal, einem schlechten Sonntagabendkriminalfilm entnommen. Doch das Kind behielt recht.

Fritz Hysterie, ausgelöst von ihrem Besuch in der Restaurantküche, ließ in ihm die Angst aufkeimen, seinem Gegenüber, das, unsicher gebärdend, einem sich windenden Reptil ähnelte, würde die Luft wegbleiben. Mit fortschreitendem Geständnis gewannen Fritz Atemzüge an Regelmäßigkeit, doch glaubte er Unbehaglichkeit, ausgelöst durch den analytischen Blick des Mädchens, zu erkennen.

Bloß ein einziges Mal verloren seine Züge an Härte, ließen, glaubte er, Erleichterung hervorscheinen. Es war der Moment, als Fritz zugab, in der Absicht Paul zu treffen, nachdem dieser die Gaststätte verlassen hatte, diesen, nach längerer Suche, am oberen Ende des Steinbruchs aufgefunden und hinuntergestoßen zu haben. Die Verformung der Dose, die Aufblähung, sei ihm durchaus aufgefallen, er habe sie verwenden müssen, doch sogleich kombiniert und mit einem vorgetäuschten Sturz von jeglicher Vergiftung abzulenken versucht.

Der Weg durch den Wald zum Polizeiauto wurde von keiner Presse begleitet, kein geschaffener Tunnel, der durch die gaffende Menge führte. Fritz hielt den Kopf grundlos gesenkt. Sein erster gelöster Fall, Kinderträume blieben unerfüllt.

Das Mädchen begleitete ihn nicht einmal bis zum Parkplatz mit. Sobald ein weiterer Polizist eingetroffen war, bog sie an der Abzweigung, an der er sie einst beschattet hatte, in Richtung des Steinbruchs ab und verschwand im Dickicht.



 


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