Wissenschaftliche Arbeit - Beispieltexte für Zitierweisen

A.                Historischer Kontext

1880 leben in Wien 1.18 Millionen Menschen, 1900 sind es 1.77 Millionen, 1910 2.08 Millionen, 66% von diesen sind Arbeiter.[1] 1918 wird die Republik ausgerufen, die Monarchie übergibt den Christlichsozialen die Macht.[2] Der österreichische SPÖ-Politiker Bruno Kreisky vermerkt zu der Geburt der Republik: „Österreich schien den Menschen nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich nicht lebensfähig zu sein.“[3]  Die wirtschaftliche Krise, die Inflation der österreichischen Krone und die hohe Arbeitslosenrate  nach Ende der Monarchie machen die fehlende Zuversicht ersichtlich.[4] Der führender Theoretiker der Sozialdemokratie  und austromarxistische Politiker Otto Bauer begründet die erschreckende wirtschaftliche Situation damit, dass die „Deutschösterreich[e] Volkswirtschaft […] auf das große österreichisch-ungarische Wirtschaftsgebiet gegründet“ ist, dessen „Zerfall“ verheerende wirtschaftliche Folgen hat.[5] Ab 1919 schafft die sozialdemokratische Partei, in der Bundespolitik in Opposition zu den regierenden Christlichsozialen, in Wien ein „politisches Gegenmodell“. Die wechselseitig wirkende Beziehung der Kommunalpolitik und der Sozialdemokratie kann, so Kreisky, gar nicht „hoch genug eingeschätzt werden“. Die Kommunalverwaltung des Roten Wiens sei weltweit ein „Vorbild einer modernen Kommunalpolitik“.[6] Susanne Reppé  spricht ebenfalls von „neue[n], vielbeachtete[n] Maßstäbe in der Kommunalpolitik.“[7] Erneuerungen auf wohnpolitischer Ebene wirken sich auch wirtschaftlich aus. Die Mieten der Gemeindebauten sind, von den ursprünglichen 20 Prozent auf 5 Prozent des durchschnittlichen Arbeitereinkommens gesunken, ein verhältnismäßig geringer Kostenaufwand, der wiederum das Niedrighalten der Löhne ermöglicht. Trotz Territorialverlusts ist die Produktionsfähigkeit des Staates dadurch gut. Der kapitalistische Profit sorgt für eine wirtschaftliche Erleichterung des somit konkurrenzfähigeren Österreichs.[8] Auch politisch ist die „pragmatische Reformpolitik“  mit […]  sozialdemokratische Stadtverwaltung von 1919-1934, die sich mit dem „kapitalistischen Wirtschaftssystem arrangiert[e]“  prägend. Es werden  „[b]eispielgebende Reformen im Bereich des Sozial-, Gesundheits- und Schulwesens“ durchgeführt.[9] Die Sozialdemokraten nehmen sich der armen Bevölkerungsschichten – der Arbeiterklasse – an.[10]  Es ging darum, bessere Verhältnisse für die Arbeiter und ihre Familien zu schaffen, wobei Bruno Kreisky kritisch anmerkt, dass „[d]ie Theorie […]  von der einen Klasse der Proletariats, zu der ganz pauschal alle gerechnet wurden, die vom Verkauf ihrer Arbeitskraft leben, also alle Lohn- und Gehaltsempfänger“, die unbedingter Zusammenhalt gegen die Kapitalisten auszeichnet, nicht der Realität entspricht.[11] Eine Klasse sei im frühmarxisitischen Sinn „eine soziologisch klar abzugrenzende Gruppe, die im Verteilungskampf […] ganz bestimmte Verhaltensweisen zeigt.“ Nach Kreisky ist „[d]er arbeitende Arbeiter […] ein anderer als der arbeitssuchende Arbeiter“ und man darf nicht die bestehenden psychologische und gesellschaftlichen Differenzen in der Annahme von „Einheitlichkeit“  außer Acht lassen.[12]

B. Wohnbauprogrammatik

Zur Wohnsituation in der Zeit vor Beginn des sozialdemokratischen Wohnprogramms ist zu sagen, dass die Arbeiterviertel Wiens sichelförmig die bürgerlichen Innenbezirke umschließen, in denen die Einwohnerzahl stetig sinkt. Außerhalb dieser Klammer liegen die Vororte.[13] In der Gründerzeit sind alle neuen Wohnungen Produkte privater Bauvorhaben, deren Attraktivität wirtschaftliche Gründe hat. Das in den Bau investierte Kapital wird verzinst. Dieser Vorteil lässt sich an der steigenden Bebauungsdichte ablesen.[14] Die Bebauung eines Grundes bedeutet oft eine 85 prozentige Nutzung der Gesamtfläche und der durchschnittliche Lichthof ermöglicht kaum eine ernstzunehmende Versorgung der Wohnungen mit Tageslicht.[15]
Die Löhne steigen etwas an, jedoch steht dies in keinem Verhältnis zum Anstieg von Mieten und Kündigungen.[16] Der Großteil der städtischen Bevölkerung wohnt „unter unerhört schlechten Verhältnissen.“[17] Die 'Arbeiter-Zeitung' verweist in der Ausgabe vom 31. 8. 1928, im Anbetracht der zuvor angeführten Zahlen im Bezug auf die Wohnungsgrundrisse, -bewohner und -ausstattungen vor dem umfassenden Bauprojekt des Roten Wiens darauf, dass nicht allein die „Wohnungsverhältnisse des Arbeiters, sondern auch die des Mittelstandes bis weit hinauf beschämend knapp“ sind.[18] Kreisky erinnert sich: „Die Arbeiterviertel in denen die armseligen Mietskasernen standen, waren zu Viertel des Elends und der Entbehrung geworden.“[19]
Die prekäre Armut führt zu einer Überbelegung der ohnehin unwürdigen Wohnungen.[20] An die 30 Prozent des verdienten Geldes eines Arbeiters müssen zur Bezahlung der stetig steigenden Mieten verwendet werden. Bettgeher und Untermieter werden eine notwendige finanzielle Entlastung für viele Wohnungsbesitzer.[21] Ungefähr ein Drittel der Menschen haben  keine eigene Wohnung.[22]
Die 'Arbeiter-Zeitung' verweist in der Ausgabe vom 31. 8. 1928 auf das Fehlen jeglichen Komforts sowie den notwendigen Voraussetzung zur halbwegs beschwerdefreien Bewältigung eines Alltags in den Bassenawohnungen der Zinskaseren des 19. und 20. Jahrhunderts[23].[24] Nur wenige Wohnungen haben eigene Toiletten und Fließwasser.[25] „Dunkle, feuchte [,][und] stark überbelegte“ , „engen“ und „ungesunde[n] Massenquartiere[n]“ in den gründerzeitlichen Zinskasernen, welche die „die Krankheitsherde für Tuberkulose“ sind[26], so wie „spekulative[r] Mietwucher“, stehen für „verheerende Zustände auf dem Wiener Wohnungssektor“.[27] Der Gesundheitszustand der Bevölkerung und die ansteigende Sterblichkeitsrate, so wie ein wachsender Alkoholismus sind logische Konsequenz dieser.[28]
Von 1891 bis 1914 vervierfachen sich die Mieterträge der Zinshäuser. 1913 sind 46 % der städtischen Einnahmen durch Mietzinsumlage und Hauszinssteuer bedingt. Es werden paradoxerweise Kommunaleinrichtungen aus dem Wohnungselend mitfinanziert.[29]
Wo liegt die Interesse der Politiker, Städteplaner und Architekten jener Zeit? Kirk Varnedoe beantwortet diese Frage in gewisser Weise in dem Buch ‚Wien 1900‘: „In der Diskussion über die Architektur der frühen Moderne konzentriert sich der Blick häufig auf das Innere der Gebäude […]. Aber in Wien gingen die interessanten Kämpfe um die Oberfläche, Eine Betonung von Fassade, Symbol und Dekoration […].“
Die Ringstraße, an welcher bis in die 1880er Jahre gebaut wird ist prunkvoll und doch, so meint Varnedoe, als „Metapher für die diskredierte liberale Ära“ für viele Menschen der Ausdruck einer „Weltsicht ohne einigende Ideale“. Die Gebäude waren Produkte verschiedenster stilistische Nachahmungen, es ließ sich kein neuer architektonischer Ansatz erkennen. So wird es Zeit für eine neuartige Idee und diese tritt Dank engagierter Jungarchitekten auf den Plan. Der neue Stil bedeutet eine große Veränderung für die Außen- und Innengestaltung. Elemente werden nicht mehr vorrangig „aus Geschmacksgründen“ angewendet, sondern wegen ihrer jeweiligen notwendigen Funktion für den Bau. Dieser „Nutzstil“ orientiert sich also an dem neuen Schlagwort ‚Funktionalität‘ und bedeutet eine Abwendung von der „Sdietilisierung“. Varnedoe ergänzt, noch über einige Jahre bleiben „ Wiener Bauwerke hinter der Rhetorik zurück[…]“.[30]
Bereits vor der sozialdemokratischen Ära werden jedoch auch die Wohnverhältnisse der Arbeiterschaft problematisiert und es wird nach Lösungen gesucht. Bis 1894 besteht der Verein für Arbeiterhäuser. 1896 gründet Kaiser Franz Josef I. die Jubiläumsstiftung für Volkswohnungen und Wohlfahrtseinrichtungen. 1898 baut das Chorherrenstift Klosterneuburg ein Arbeiterwohnhaus und im selben Jahr werden Ledigengheime errichtet. 1892 und 1902 werden zwei Gesetzte erlassen, mit denen der Staat in den Bau von Arbeiterwohnungen eingreift. Er versucht durch Steuerbefreiung Privatpersonen zum Bau von Wohnungen zu motivieren, doch bleibt dies als Wertanlage unattraktiver als die Anlage der Mittel im privaten Bau und somit zeigt dies kaum Erfolg.[31]
Der christlich-sozialen Partei steht die sozialdemokratische oppositionell gegenüber.[32] Zunehmend findet eine politische Polarisierung statt, extremer ausgerichtete Parteien gewinnen an Anhängerschaft.[33] Der christlich-soziale Bürgermeister Dr. Karl Lueger, der von 1897 bis 1910 dieses Amt innehat, baut eine Vielzahl an sozialen Einrichtungen und stärkt  die (technische) Infrastruktur. Der Wohnbau ist jedoch in seinen Augen Privatsache[34], sein Interesse liegt beim Wohl des Klerinbürgertums[35], sowie der Straffung und Organisation öffentlicher Dienste und, im Gegensatz zu der vorangehenden liberalen Ära, der Kommunalisierung von Dienstleistungsbetrieben.[36]
Die sozialdemokratische Stadtverwaltung hat im Gegensatz dazu starkes Interesse an einem Wandel der Wohnverhältnisse.[37] Das umfassendes sozialdemokratische Projekt einer Stadterneuerung hin zu einer sozialen Großstadt  ab 1918 baut ihr „auf der Entwicklung unter Lueger auf und beginnt neben notwendigen Versorgungs- und Bildungseinrichtungen wie Schulen, Kindergärten, Badeanstalten, Sportanlagen und Bühnen die kommunale Wohnbautätigkeit als Reaktion auf das Wohnungselends, zunächst weniger als „Ideologie“, mit einem neuartigen Zugang zu der Wohnung als „unumstrittene[s] Anrecht jedes einzelnen, unbeeinflusst von Zinsrendite, Angebot und Nachfrage“, das Bedürfnissen und finanziellen Möglichkeiten der Menschen entspricht.[38] „Eines der wichtigsten Argumente der Gegner ist die Wohnungsnot. […] Nach der kapitalistischen Auffassung ist die Wohnung eine Ware, die nur nach kapitalistischen Grundsätzen hergestellt, vermietet und benutzt werden kann.“, schreibt die ‚Arbeiter-Zeitung‘ am 29. 8. 1928 […] Die private Bautätigkeit hat einfach überall versagt.“ (Vgl. 'Arbeiter-Zeitung', Wien 29. 8. 1928 zit. n. Reppé 1993, S. 14f.) Wohnungen soll der Warencharakter genommen werden. (S. 16) Es gibt einen Wohnqualitätsstandard, den einzuhalten, Sache der Kommune, nicht Privatangelegenheit ist. Die infolge des Wohnungsbauprogramms  (S. 364f.) kommunalen Wohnungen, erbaut für „einkommensschwache Arbeiterfamilien“,  aus den Jahren zwischen 1923 und 1934 weisen weit angelegte, begrünte Höfe, Balkone, Loggien und Erker, so wie ausreichend Lichteinfall auf. In ihnen befinden sich abgesehen der privaten Wohneinheiten Gemeinschaftseinrichtungen.[39] Nicht nur arbeiterliche, sondern auch kleinbürgerlichen Wohnideen werden in stilitisch unterschiedlichen Bauten materialisiert. Das 1923 gesteckte Ziel zur Schaffung sozialer Wohnbauten wird während der Ära des Roten Wiens übertroffen, ein Zehntel der Stadtbevölkerung lebt in jenen Höfen. Susanne Reppé spricht zurecht von einem „revolutionäre[m] Wohnbaukonzept“.[40] Ein solches ist auch die Siedlerbewegung, eine Verbindorganisation selbstbestimmten Bauens. Bei der Erbauung der Siedlungen stellt bis zu 30% Eigenarbeit der zukünftigen Bewohner dar, der restliche Baubetrieb wird mithilfe gewerkschaftlich organisierter Arbeiter und unterstützende Firmen und Organisationen für alle Bereiche bewältigt. 1921/1922 entwickeln sich viele weitere einander unterstützender Selbsthilfeorganisationen, die durch die Gemeinde gefördert werden.[41] Die innerstädtischen sozialistischen Superblocks mit Höfen, die „proletarische[n] Ausnahmebauten“ in der „kapitalistischen Metropole“ verdrängen zwar nach und nach die informellen Siedlungen, die am Stadtrand entstehen, doch existieren die beiden Formen, wenn auch bei weitem nicht in gleicher Anzahl vertreten und von einer ständigen Diskussion der jeweiligen Vertreter, sowie jener weiterer Formen, wie dem Einfamilienhaus als „Grundlage moderne[r] Architektur“ geprägt, im Roten Wien. (Vgl. S. 367.) Bis 1938 entstehen viele Siedlungen und tausende Wohnungen.
·                    Der Mieterschutz wird 1922 bundesgesetzlich verankert. Dies führt zu einem Stillstand der privaten Bautätigkeit. Er ist jedoch keine sozialdemokratische Neuerscheinung. Die 'Kaiserliche Verordnung zum Schutz der Mieter'  1917 (S. 364f.)  ist jedoch eher eine „Notverordnung“, um „beschwichtigend auf die Bevölkerung einzuwirken“, tatsächliches soziales Interesse darf nicht mit politischer Taktik verwechselt werden.?[42] Davor kann die Miete willkürlich je nach Nachfrage erhöht werden. Nicht nur der Mieterschutz, sondern auch die Höhe der Mieten erleichtert die Wohnsituation vieler. Mieten werden leistbarer, dürfen nicht acht Prozent eines Arbeiterlohnes überschreiten, decken also lediglich die Betriebs- und Erhaltungskosten, während die  Grund- und Baukosten dem Mieter nicht verrechnet werden.[43]
·                    Die sozialdemokratische Partei enteignet im Zuge des Wohnungsprogramms des Roten Wiens viele leerstehende Wohnungen nach Abschluss des Wohnunganforderungsgesetz[44] 1919 (S. 364f.), durch welches  der Gemeinde ermöglicht ist, Wohnungen anzufordern und sie Famillien der ärmeren Bevölkerungsschicht zuzuweisen (S. 14).
·                    Die sozialdemokratische Partei führt eine Steuerform zur Finanzierung des sozialen Baus durch. Der Finanzstadtrat Hugo Breitner möchte die finanziellen Mittel zur Realisierung kommunaler Aufgaben bzw. Ideen von da her nehmen, „wo [sie] sich wirklich befinde[n]“, nämlich in den „steuerscheuenden besitzenden Klassen“. Er führt die Mietzinssteuer in veränderter Form eingeführt. Luxusabgaben wie Strom, Hauspersonal und Genussmittel werden ebenfalls versteuert. ‚Steuertyrann‘ Breitner macht sich so bei den Bürgerlichen unbeliebt.[45]
·                    Die Wohnbausteuer ist eine weitere Steuer Breitners. Sie ermöglicht zusammen mit  der Mietzinssteuer viele Bauten. Der zu zahlende Betrag ist an die bewohnte Fläche angepasst. Sie ist möglich, da das Steuerrecht für solche Art von Steuern noch nicht beim Bund liegt, sondern die Kommune Wien sie einführen kann.
·                    Das Rote Wien betreibt eine intensive Bodenankaufspolitik[46], um Baugrund zu niedrigen Preisen in den kommunalen Besitz zu bringen und somit Platz für soziale Wohnbauten zu erwerben. Trotz fehlendem Enteignungsgesetz?? befindet sich bis 1929 30 Prozent der Stadtfläche Gemeindebesitz. (S.16)
Vittorio Magnano Lampugnani spricht von „starke[n] Wechselwirkungen“ zwischen den Reformen, sowie zwischen diesen und der bürgerlichen Bevölkerung:
 „Grundbesitz und Steuereinnahmen waren notwendige Voraussetzungen für den städtischen Wohnungsbau. Mieterschutz und Mietzinskontrolle führten zu stagnierenden oder sogar zu sinkenden Grundstückspreisen, wodurch die aggressive Ankaufspolitik überhaupt erst möglich wurde. Ein Übriges tat die harte Steuergesetzgebung.“[47]
Mit der gesetzlichen Liberalisierung des Mietschutzes, die 1928 von der Regierung gefordert wird und nachdem der am Parteitag vorgebrachte sozialdemokratische Vorschlag einer Mäßigung der Wohnungsverteilungsstrategie, der Schaffung eines Bauerhaltungsfonds, so wie ein moderates Enteignungsgesetz abgelehnt wird, 1929 gesetzlich manifestiert wird, verlieren die Sozialdemokraten, die bald darauf politisch entmachtet wird, ihre „effektivste Waffe“. Die Christlichsozialen stellen weiters ungefähr ab 1930 die Wohnbautätigkeit der Sozialdemokraten in den Schatten mit Projekten, die bei jenen gescheitert sind, wie der Wohnturm als soziale Bauform.[48]
 (Wohnbaukubatur, Werksiedlungen, liberales Deutschtum, Munizipalsozialismus,  politische gewerkschaftliche Genossenschaftsbewegung, gewerkschaftlich organisierte Bauarbeiter)

C.                Die Baugeschichte

Reppé bezeichnet den Karl-Marx- Hof als „Paradebau des kommunalen Wohnbaus der Zwischenkriegszeit“.[49] Der Architekt Karl Ehn, ein Schüler Otto Wagners designt den  monumentalen Bau, der in drei Abschnitten erbaut wird, wobei der erste am  12. Oktober  1930 in Anwesenheit des Wiener Bürgermeisters Karl Seitz  feierlich eröffnet wird, der letzte Bauteil erst im Sommer 1933. Den Eröffnungsfeierlichkeiten wohnen zehntausende Menschen bei. Die 1.382 Wohnungen bieten Platz für 5.000 Menschen.[50]

Lage

Der Karl-Marx-Hof befindet sich an der Heiligenstädterstraße im 19. Bezirk Döbling, einer bürgerlichen Gegend.[51] Die Infrastruktur ist sehr gut.  „Die Anlage wird in der Nähe des Heiligenstädter Bahnhofs in der sogenannten Hagenau liegen, wo sich heute Gartnereien befienden. Diese Gartnereien müssen der Entwicklung Wiens weichen.“, erklärt die 'Arbeiter-Zeitung' am 25.11.1926 die Notwendigkeit der Nutzung des Grundes.[52]  Nicht nur, dass ökologisch genutzte Flächen weichen müssen, sorgt für Aufsehen. Der Bau erscheint für manche als unpassend in der ländlich anmutenden bürgerlichen Gegend – dies wird in der 'Arbeiter-Zeitung', „[d]ie […] Frage, warum gerade in diese 'freundliche Konturen der Landschaft' der große Wohnhausbau kam“, gestellt von dem ‚Neue Wiener Tagesblatt‘ 1928 („Warum muss die Gemeinde gerade dieses Gelände für einen Mammutbau ausersehen und […] mit Wohnkasernen verschandeln? Hier, wo die Stadt in die gefälligen und freundlichen Konturen der Landschaft überzugehen beginnt“, würden „Mauerkolosse[n] das „reizende Landschaftsbild“ beeinträchtigen.[53]), beatwortend, folgendermaßen kommentiert:
„ In der nächsten Umgebung des Neubaus in der Heiligenstädterstraße, in Nussdorf und in Heiligenstadt, steht eine ganze Anzahl uralter Häuser. […]  Solche Wohnungen sind Brutstätten der Gicht und Rachitis, von Augen- und Ohrenkrankheiten und Heimstätte der Tuberkulose. Die Menschen, die in diesen ungesunden Löchern von Nussdorf und Heiligenstadt wohnen, kennen kein sehnlicheres Ziel, als eine Wohnung in einem Gemeindewohnhaus zu bekommen, denn für sie haben die  ‚gefälligen und freundlichen Konturen' der Landschaft lange nicht den Reiz wie für den Herrn der Annoncenplantage.“ [54]

Außengestaltung/Stil

Die vom Verkehrslärm abgetrennten Höfen  mit den großzügig dimensionierten Grünflächen  innerhalb des Baus und die guten Belichtungsverhältnisse sind eine Neuheit.[55] Große Teile der Außenfassade sind  rot.
Günther Haller bezeichnet in der Presse den Gebäudekomplex als „schmucklos minimalistisch[en]“ mit „beeindruckende[r] Ästhetik“.[56] In der Festschrift zur Eröffnung der Wohnhausanlage wird auf die gestalterischen Schwierigkeiten, die ein solcher monumentaler Bau mit ein Kilometer langer Gebäudefront mit sich bringt, rückblickend noch einmal eingegangen. Die „Gliederung der Baumasse […] im vertikalen und horizontalen Sinn“ sei eine Notwendigkeit, doch ist kein Dekor im ursprünglichen Sinne notwendig, da funktionale Elemente zur Gliederung verwendet werden. So ist der „einzige[n] Schmuck“ der Fassaden der“ breite[n], fortfließende[n] Maanden aus Balkonen“ an den „Frontteile[n]“. Zur Auflockerung der Frontfassade trägt zusätzlich oder insbesondere der zur Heiligenstädterstraße offene Platz, in dessen Mitte der 'Sähmann', eine überlebensgroße Figur aus Bronze, steht und an dessen anderem Ende als Teil der Rückfront der höchster Part des Komplexes, die „Überbauung der zum Sportplatz Hohe Warte führenden Straße“, mit „sechs Turmaufbäue[n]“ verziert in den Himmel ragt. Zu dem wenigen künstlerischen, schmückenden Elementen zählen ebenfalls vier Figuren an den vier Seiten eben jenes großen Platzes, die  Freiheit, Aufklärung,  Fürsorge  und  Körperkultur allegorisiert darstellen.[57] Nach dem Verfasser der Festschrift entsprechen alle baulich-gestalterischen Maßnahmen zur Dekoration und Erzielung eines zufriedenstellenden optischen Eindrucks, wie man nicht zuletzt an der „Grundrissauflösung“, insbesondere den „mächtige[n] Höfen“ erkennen könne, Otto Wagners Leitsatz: „ [D]er Kunst einzige Herren ist die Notwendigkeit.“[58] Otto Wagner arbeitet mit den Christlich-Sozialen zusammen.[59]

Innengestaltung

Die Wohnungen sind verhältnismäßig groß und mit Toilette und Küche ausgestattet. Es werden einige Gemeinschaftseinrichtungen, wie sogar Räumlichkeiten für politische Organisationen, Geschäftslokale[60] und Sanitäranlangen geplant.[61] Die Zentralwaschküche stellt eine besondere Neuheit dar. Da elektrischer Strom zu der Beheizung der Kesselanlage genutzt wird, braucht es keine Kohlenfeuerung und die Anlage kann rauchfrei gehalten werden.[62]

Bautechnischer Aspekt
Die bauliche Maßnahme, den Untergrund zu festigen, wird außerparteilich national und international kritisiert. Dies hat nicht zuletzt eine politische Bedeutung. Jahrelang warnt die Opposition vor der Einsturzgefahr.[63]  Die sozialdemokratische Tageszeitung 'Der Abend' beschreibt stolz anmutend die Wiederlegung der christlich-sozialen Bedenken durch Belastungsproben:
„Diese Woche wurden auf dem Heiligenstädter Bau Belastungsproben vorgenommen, In allen jenen Gebäuden, von welche ndie Christlichsozialen mit großem Geschrei behaupteten, dass sie schon dem Einsturz nahe sind, wurde eine Riesendeckenbelastung vorgenommen.“ Es werden einige weitere Maßnahmen beschrieben, deren Präzession und gewisshafter Durchführung huldigend und euphorisch erklärt, die „stärksten Schimpfkanonen der Christlichsozialen werden die Fortführung der Gemeindebauten nicht hindern.“ [64]

D.               Materialisierung von Ideen

Namensgebung

Die Bennung als Karl-Marx-Hof nach dem antikapitalistischen Revolutionär Karl Marx ist nicht zuletzt ein klar gesetztes Statement, das den zumindest vorläufigen Abschluss einer immer wieder entflammenden Diskussion um den Hof markiert. „Mit den fettesten Extraausgabenlügen sollten Fundierungslügen zu einem 'Zusammenbruch der kommunalen Bautätigkeit' umgeschwindelt werden“, es sei jedoch die „Haltlosigkeit dieser Hetze“ erwiesen und nun stehe das Bauwerk als „Symbol für die vorbildlichen Aufbauarbeiten [….], die die Sozialdemokraten mit […] unbeugsamer Entschlossenheit leisten.“, berichtet die 'Arbeiter-Zeitung' vom 20. 1. 1929. Das gelungene Bauprojekt ist also der materialisierte Triumph über die Kritik der antimarxistischen Stimmen.[65] Zur Namensgebung äußert sich auch der Präsident des Wiener Stadtschulrates Otto Glöckel 1930 folgendermaßen: „Für uns ist dieser Bau ein Symbol, an seiner Stirn trägt er den Namen des unsterblichen Geistes Karl Marx... In seinem Namen haben wir hier eine neue Festung des Miterschutzes geschaffen“.[66]

Soziale Interaktion und Gemeinschaft

Man muss in den Hof gehen, um in die jeweiligen Häuser zu gelangen, so wird Nachbarschaft produziert. Das Rote Wien hat das Ideal, dass das Individuum sich als Teil eines ganzen sieht. Im innerstädtischen bürgerlichen Wohnen sind Höfe noch privat. Gemeinschaftlicher Raum ist das zentrale Element des Roten Wiens.
Die baueigene Zeitung verspricht „ein treuer Helfer der Bewohner“ zu sein und „mit[zu]helfen, den Kampf um [ihre] Forderungen zu organisieren.“[67]
In den Innenhöfen werden Theateraufführungen und Musikveranstaltungen veranstaltet.[68]

Eindruck auf Außenstehende

Nun könnte der Eindruck entstehen, Lage und ästhetische Gestaltung wären durch funktionale Überlegungen begründbar bzw. Produkt geschickter Platzierung funktionaler Elemente, doch darf die politische Bedeutung beider nicht unbeachtet bleiben. Bewohnern soll eine angenehme Umgebung geschaffen und Außenstehenden der Symbolcharakter des „Volkswohnungspalasts“[69] in all seinen architektonischen Einzelheiten verdeutlicht werden. Um vom Bahnhof zum Stadium auf der Hohen Wart zu gelangen, müssen am Wochenende tausende Menschen den Hof queren.
„Wenn wir einst nicht mehr sind, werden diese Steine für uns sprechen.“ Diese berühmten Worte, die Seitz bei der Eröffnung spricht, unterstreichen diese politische Symbolkraft der bewunderten und gleichzeitig gefürchteten „roten Festungen“, das eben nicht rein als funktionaler Wohnort für Arbeiterfamilien dient, sondern zur Materialisierung und Visualisierung des „Selbstbewusstsein[s]“ im ‚roten Wien‘ zur Macht gelangte sozialdemokratischen Regierungspartei in einem sonst von den Christlichsozialen regierten Österreich.  Eine blockartige Inszenierung des „sozialutopische[n] Gesellschaftsmodell“, des „klassenkämpferischen Schwung[s]“, die christlich-soziale Bürgerliche fürchten, anfechten und verurteilen, jenen mächtigsten Hof aller „Raubburgen des österreichischen Marxismus“, dieser „blutigrote[n] Würfelkolosse“, die die Hauptstadt in ihren Augen zu eine „einzigen furchtbaren Festung“  machen.[70] In diesem Sinne beschreibt Josef Schneiders in der Broschüre „Der Fall der Roten Festung“ die strategisch gut platzierten Wohnbauten seien mit „eigentümliche[n] festungsartige[n] einspringende[n] Winkel[n]“ versehen und so fänden sich mehrere Elemente, die kriegerisch anmuten, bewusst zu diesem Zweck gestaltet. Die in der Festschrift hochgewerteten Balkons verstärkten mehr die festungsähnlich Wirkung.[71]

Historischer Kontext 2

Der Karl-Marx-Hof ist nicht bloß in Lage und Gestaltung „ideoligisch-politisch aufgeladen“, sondern auch durch seine Geschichte als Ort, wenn nicht als  Zentrum des Widerstandes gegen den Austrofaschismus im Februar 1934. Er steht für „für Bereitschaft von Polizei und Bundesheer, ohne Rücksicht auf Verluste Wohnanlangen unter Artilleriebeschuss zu legen“.[72]
Bei der Eröffnung des Wohnbaus 1930 spricht Seitz sein Bedauern all jenen Bewohnern gegenüber aus, die „in einem Bau ein[zu]ziehen, der von Rechts wegen zusammengestürzt sein sollte." Er bezieht sich auf die Anfechtungen der Oppositionellen, den schwierig zu bebauenden Untergrund des Karl-Marx-Hofes betreffend, die während dessen gesamter Erbauung nicht verklungen. 1934 sind es schlussendlich die Artilleriegeschossen der Christlichsozialen selbst und die Heimwehr, die die bisher größte Bedrohung für den Bau darstellen.[73] „Aus der Raubburg wurde die gefallene Bastion“, formuliert Günther Haller in der Presse.[74]
Kreisky behandelt die Frage, welche Rolle die Sozialdemokraten beim Februaraufstand 1934 und dem Ende der Republik spielt und kritisiert ihre „Tolerierungspolitik“.[75] Obwohl die Verbesserung vieler politischer, sozialer und wirtschaftlicher Aspekte im Roten Wien unbestreitbar ist, darf nicht ausgeblendet werden, dass „Massenarbeitslosigkeit, Dauerelend und Hungerlöhne“ unter der sozialdemokratischen Regentschaftsperiode in der Hauptstand weiterhin bestehen bleiben und die politische Entwicklung beeinflussen, Österreich immer mehr verarmt, nicht fähig, die Bevölkerung zu versorgen. „Ein Bundeskanzeler nach dem anderen wanderte  […] in die Hauptstädte Europas, und jeder neue Finanzminsiter […] um Anleihen zu bekommen“, erinnert sich Kreisky, bedauert, dass es in den Jahren sozialdemokratischer Komunalpolitik nicht klappt, „Österreich aus der Krise und damit vor dem Nazismus retten“.[76] 1929 erschüttert die Wirtschaftskrise die ohnehin prikäre Situation Österreichs. (Vgl. S. 380.)1931 erreicht die Weltwirtschaftskrise den Höhepunkt.[77] Auch die politische Radikalisierung bzw. Polarisierung erfordert parteiliche Reaktion. Hierzu Kreisky: „Mit der Brutalisierung der Politik, wie sie sich seit 1927 abzeichnete, ist sie einfach nicht fertig geworden. […] Die politische Stimmung im Land war durch und durch vergiftet.“
Er zweifelt an der damaligen Ansicht, der Schutzbund sei „die letzte Trumpfkarte der Demokratie“, sei er doch viel mehr Zeichen an die bürgerliche Bevölkerung für die Notwendigkeit eines Bürgerkriegs. Dem Entschluss, die Demokratie würde sich nicht ohne weiters ‚geschlagen‘ geben, folgen ohnehin keine Handlungen.
Der Koalitionsvorschlag 1931 der christlich-sozialen Partei wird abgelehnt, laut Kreisky die „letzte Rettung der Demokratie“, die die Ereignisse am 12. Februar verhindern könnten. Und darüber hinaus womöglich auch den Einmarsch Adolf Hitlers 1938, denn die sozialdemokratische Partei ist, so Kreisky, „immerhin nach den Nationalratswahlen 1931 ungeschwächt“ und eine Koalition  würde den Zusammenschluss 75 Prozent der Wähler bedeuten.[78]
Als im Februar 1934 der  dreitägige Bürgerkrieg ausbricht ist „Niederlage“ der Sozialdemokraten, vermerkt Kreisky, „schon längst besiegelt“. Er bezeichnet ihn als „heroischen Kampf der wenigen Aufrechten […] Gefechte einer verzweifelten Nachhut […] des Proletariats“.[79]
Als folgenschwersten Fehler sieht Kreisky das sozialdemokratische Hauptquartier preiszugeben  und „aus den Wohnhäusern der Arbeiter in den berühmten Gemeindebauten zu schießen“.[80]  Am Februar 1934  besetzt die Polizei den Karl-Marx-Hof ohne Erfolg. Am nächsten Tag später um  ein Uhr früh beginnen der systematische Artilleriebeschuss und am 15. Februar gibt der republikanischen Schutzbunds auf.[81] Johann Haas, Bewohner des Baus und aktiv in der „Schutzbundgruppe Heiligenstadt“ verfasst einen ausführlichen Bericht, der in den zermürbenden Kampf um die 'Festung' Karl-Marx-Hof einblickt gibt. Die Mitglieder des Schutzbundes wehren sich mit all den ihnen gegebenen Möglichkeiten gegen Millitär und Heimwehr und doch „erober[te]n sie Stiege um Stiege, die Schutzbündler f[i]nden sich bald umzingelt“.[82] Einige von ihnen, die nicht während dese Kampfes sterben, werden zum Tode verurteilt.[83] Die  örtlichen Anführer des  Schutzbunds werden  hingerichtet.[84] Der unerbettliche Kampf endet am 15. Februar, drei Tage nachdem Beginn der polizeilichen Besetzung des Gemeindebaus.[85] Die Entscheidung zur Verlagerung der kämpferischen Verteidigung in den privaten Wohnbereich ist  sei dem Stabchef des sozialdemokratischen Schutzbundes ? und dem Obmann des Schutzbundes Julius Deutsch zuzuschreiben.[86] Auch hier sieht Kreisky beachtenswerte Auswirkungen auf die Machtergreifung Hitlers in Österreich, denn die Kämpfe  hinterlassen eine noch größere Abneigung der österreichischen Arbeiterschaft gegenüber dem austrofaschistischen Regime, das die demokratische Republik ablöst, und somit zu einer größeren Toleranz gegenüber Hitler, da die Beendung des Regimes zum zentralen Wunsch wird.[87]
Die Demokratie weicht dem autoritären Ständestaat. (S. 380) 1934 erfolgt neben der Umbenennung in "Biedermannhof" eine schnell vollzogene Umsiedelung jener Bewohnerinnen und Bewohner, denen eine besonders „revolutionäre[r] Gesinnung“ zugeschrieben wird. Diesen 'reformierenden' Prozess bezeichnet die 'Neue Freie Presse' in einem Bericht vom 19.2.1934 als „Entmilitarisierung“.[88] Eine weitere Umbenennung erfolgt. Der neue offizielle Namen ist ‚Heiligenstädter Hof‘. 1938 und 1939 werden unter der nationalsozialistischen Besatzung 66 Familien aufgrund  von Religion und ‚Rasse ‘  zur Wohnungsaufgabe gezwungen.  1945 erhält der Hof wieder seinen  ursprünglichen Namen.[89] 

Nutzung

Man muss in den Hof gehen, um in die jeweiligen Häuser zu gelangen, so wird Nachbarschaft produziert, was von den Menschen nicht nur positiv aufgenommen wird. Die Menschen möchten nicht ständig in Gesellschaft sein. Es wird zur Zier, seinen Nachbarn eben nicht zu kennen.

Gegenwart

1988 bis 1992 findet eine Sockelsanierung am Karl-Marx-Hof statt, Fassade, Fenster und Türen werden erneuert. Es werden  neue Aufzüge eingebaut. Der Bau wird an die  Fernwärme Wien angeschlossen. Heute befinden sich 1.272 Wohnungen im Bau, der einen „museumsähnliche[n] Charakter“[90], ein „viel bewundertes Studienmaterial“, der Inbegriff „ menschenfreundliche[n] historische[n] Wohnen[s]“ des Roten Wiens.[91]
 „In den 1920er und 1930er Jahren baute die Stadt Wien Wohnungen für einen neuen Menschen, den selbstbewussten, gesunden und sich bildenden Arbeiter […] heute schafft man Wohnraum für  den konsumierenden Arbeiter, der am Wochenende mit dem Auto ins Einkaufszentrum oder zu seinem Zweitwohsitz im Grünen fährt.“
Architekt Harry Glück kritisiert den sozialen Wohnbau im Wien seiner Gegenwart im Gegensatz zu den „gesellschaftspolitischen Visionen“ des Wohnbauprogramms im Roten Wien.[92] Auch der Wohnbauforscher Hans-Jörg Hansley steht dem aktuellen sozialen Wohnbau kritisch gegenüber. Er thematisiert „zunehmend fehlende Leistbarkeit, vor allem für Familien“.[93] Die Mieten sind tatsächlich eher an die finanziellen Möglichkeiten der Mittelschicht angepasst und die ärmere Bevölkerung muss mit „abgewohnte Gemeinde- und Genossenschaftswohnungen in schlechter Lage“ Vorlieb nehmen, Zuwanderer leben teilweise in gründerzeitlichen Substandardwohnungen ohne Badezimmer und Toilette.[94] Die Erbauung von Gemeindebauten ist seit den 1990er Jahren „quasi eingestellt“, meint Seiß?.[95]Heutzutage geht es vielmehr um „Wohnungen für Durchschnittsverdiener“. Doch zeugen hohe Preie nicht von mehr Wohnqualität. Die Ausstattung der Gemeinschaftsanlagen kann in manchen Fällen nicht mit jener der  Bauten der 1920er und 1930er Jahre.[96]
David Ellensohn: […] Zulasten der Bewohner sei die Privatisierung „[…] Wohnbauressort samt aller ausgelagerter Gesellschaften […] ernsthafter Kontrolle bedürfte […] Stadtentwicklung, deren Motor der soziale Wohnbau in Wien nach wie vor ist.“[97]

Die Christlichsozialen sehen den Wohnungsbau als eine Privatsache, die durch Zuschüsse Unterstützung erhält. Der Fokus liegt auf der Sanierung der Innenstadt.
Weitere alternative Bauformen stellen d der Zeilenbau und das Arbeiterterassenhaus.







[1]Vgl. Bramhas Erich: Der Wiener Gemeindebau. Vom Karl- Marx-Hof zum Hundertwasserhaus. Basel 1987, S. 9-69, S. 9.

[2]Vgl. Bramhas 1987.

[3]Vgl. Bruno Kreisky: Zwischen den Zeiten. Erinnerungen aus fünf Jahrzehnten. München 1986, S. 40.

[4]Vgl. Kreisky 1986, S. ?, 41.

[5]Vgl. Otto Bauer zit. n. Kreisky 1986, S. 40.

[6]Vgl. Kreisky 1986, S.178 ff.

[7]Vgl. Susanne Reppé: Der Karl-Marx-Hof. Geschichte eines Gemeindebaus und seiner Bewohner, Wien 1993, S. 9.; Günther Haller: Karl-Marx-Hof: „Steine werden für uns sprechen“. In: Die Presse; Print-Ausgabe, 28.02.2015, http://diepresse.com/home/panorama/wien/4673730/KarlMarxHof_Steine-werden-fuer-uns-sprechen, 27.02.2015 [Zugriff am 28.04.2017].

[8] Vgl. Vittorio Magnano Lampugnani: Das Rote Wien. Austromarxismus und städtische Arbeiterpaläste. In: ders. (Hg.): Die Stadt im 20. Jahrhundert. Visionen, Entwürfe, Gebautes. Band 1, Berlin 2011, S. 363-381, S. 364f.
[9]Vgl. Susanne Reppé: Der Karl-Marx-Hof. Geschichte eines Gemeindebaus und seiner Bewohner, Wien 1993, S. 9.; Günther Haller: Karl-Marx-Hof: „Steine werden für uns sprechen“. In: Die Presse; Print-Ausgabe, 28.02.2015, http://diepresse.com/home/panorama/wien/4673730/KarlMarxHof_Steine-werden-fuer-uns-sprechen, 27.02.2015 [Zugriff am 28.04.2017].

[10]Vgl. Kreisky 1986, S. 178 ff.

[11]Vgl. Kreisky 1986, S. 159.

[12]Vgl. Kreisky 1986, S. ?.

[13]Vgl. Bramhas 1987, S. 13.

[14]Vgl. Reppé 1993, S. 11.

[15]Vgl. Reppé 1993, S. 12.

[16]Vgl. Bramhas 1987, S. 10.

[17]Vgl. Reppé 1993, S. 9.

[18]Vgl. 'Arbeiter-Zeitung', Wien 31. 8. 1928 zit. n. Reppé 1993, S. 10f.

[19]Vgl. Kreisky 1986, S. ?.

[20]Vgl. Bramhas 1987, S. 10.

[21]Vgl. Reppé 1993, S.12.

[22]Vgl. Haller 2015.

[23]Vgl. Seiß 2008, S. 73f.

[24]Vgl. 'Arbeiter-Zeitung', Wien 31. 8. 1928 zit. n. Reppé 1993, S. 10f.

[25]Vgl. Haller 2015.

[26]Vgl. „Rotes Wien“, Inge Podbrecky, Falter Verlag, Wien 2003 zit. n. Seiß 2008, S. 71.

[27]Vgl. Reppé 1993, S. 9.

[28]Vgl. Reppé 1993, S. 12.

[29]Vgl. Bramhas 1987, S. 10.

[30]Vgl. Die ufangreichste Dokumentation des Projekts der Ringstraße i n: Renate Wagner-Riger (Hrsg.) Die WInder Ringstraße: Bild einer Epoche 11 Bde. Wien, köln u. Graz 1969-70, Wiesbaden 1972./Stellunganhme des Wiener Autors und Experten Hermann Bahr) zit. n. Verlag., Taschen:
Wien 1900 Kirk Varnedoe Kunst-Architektur & Design. Reihe Kunstgeschichte. o.A.
Universitas Könyvkiadà , Budapest, 1987., 1987

[31]Vgl. Bramhas 1987, S. 13f.

[32]Vgl. Bramhas 1987, S. 10.

[33]Vgl. Bramhas 1987, S. 34.

[34]Vgl Bramhas 1987, S. 14.

[35]Vgl. Bramhas 1987, S. 18.

[36]Vgl. Bramhas 1987, S. 19.

[37]Vgl. Reppé 1993, S. ?.

[38]Vgl. Reppé 1993, S. 9.; Bramhas 1987, S. 34., Haller 2015.

[39]Vgl. „Rotes Wien“, Inge Podbrecky, Falter Verlag, Wien 2003 zit. n. Seiß 2008, S. 71.

[40]Vgl. Reppé 1993, S. 9.; Presse.

[41]Vgl. Bramhas 1987, S. 23f.

[42]Vgl. Reppé 1993, S. 14.

[43]Vgl. „Rotes Wien“, Inge Podbrecky, Falter Verlag, Wien 2003 zit. n. Seiß 2008, S. 71.

[44]Vgl. Reppé 1993, S. 14.

[45]Vgl. Haller 2015.

[46] Vgl. Lampugnani 2011, S. 364f.
[47]Vgl. Lampugnani 2011, S. 365.

[48] Vgl. Lampugnani 2011, S. 380f.
[49]Vgl. Reppé 1993, S. 8.

[50]Vgl. Haller 2015.; Standard.

[51]Vgl. Standard.

[52] Vgl. 'Arbeiter-Zeitung', Wien, 25. 11. 1926 zit. n. Reppé 1993, S. 21
[53]Vgl. 'Neues Wiener Tagesblatt', Wien 1928 zit. n. Reppé 1993, S. 21ff.

[54]Vgl.  „Arbeiter-Zeitung“, Wien 26. 10. 1928 zit. n. Reppé S. 27f., Herv. i. o.

[55]Vgl. Reppé 1993, S. 8.

[56]Vgl. Haller 2015.

[57]Vgl. Haller 2015.

[58]Vgl. „Der Karl-Marx-Hof“, Festschrift zur Eröffnung der Wohnhausanlage, Wien 1930 zit. n. Reppé 1993, S. 24-27.; Haller 2015.

[59] Vgl. Varnedoe S. 32.

[60]Vgl. Martin Putschögl: Wiener Karl Marx Hof wird 80 Jahre alt. derStandard.at, 7.9.2010, http://derstandard.at/1282979113469/Gemeindebau-Legende-Wiener-Karl-Marx-Hof-wird-80-Jahre-alt ,  [Zugriff am 28. 04. 2017].

[61]Vgl. Reppé 1993, S.8 ?.

[62]Vgl. „Der Karl-Marx-Hof“, Festschrift zur Eröffnung der Wohnhausanlage, Wien 1930 zit. n. Reppé 1993, S. 56.

[63]Vgl. Standard.

[64]Vgl.  „Der Abend“, Wien, 27.  10. 1927 zit. n. Reppé 1993, S. 30ff.

[65]Vgl. „Arbeiter Zeitung“, Wien, 20. 1. 1929, zit. n. Reppé 1993, S. 37.

[66]Vgl. „Arbeiter-Zeitung“, Wien, 12. 10. 1930 zit. n. Reppé 1993, S. 39ff.

[67]Vgl. Vgl. „Wien wirklich“, Wien 1983, S. 280 zit. n. Reppé 1993, S. 64f.

[68]Vgl. Haller 2015.

[69]Vgl. Haller 2015.

[70]Vgl. Haller 2015.

[71]Vgl. Josef Schneider „Der Fall der roten Festun“ zit. n.  „60 Jahre kommunaler Wohnbau“, Wien 1983, S. 19 zit. n. Reppé 1993, S. 23.

[72]Vgl. Reppé 1993, S. 8?; Standard.

[73]Vgl. Standard.

[74]Vgl. Haller 2015.

[75]Vgl. Kreisky 1986, S. 196f.

[76]Vgl. Kreisky 1986, S. 178 ff.

[77]Vgl. Kreisky 1986, S. 195.

[78]Vgl. Kreisky 1986, S. 194 - 197.

[79]Vgl. Kreisky 1986, S. 192 f; Standard.

[80]Vgl. Kreisky 1986, S. 198.

[81]Vgl. Standard.

[82]Vgl. Johann Haas, „12. Februar 1934 – Niemals vergessen, ein Bericht von den Kämpfen in Döbling“, Wien 1974 zit. n. Reppé 1993, S. 80.

[83]Vgl. Johann Haas, „12. Februar 1934 – Niemals vergessen, ein Bericht von den Kämpfen in Döbling“, Wien 1974 zit. n. Reppé 1993, S. 82f.

[84]Vgl. Standard.

[85]Vgl. Reppé 1993, S. 72.

[86]Vgl. Kreisky 1986, S. 198.

[87]Vgl. Kreisky 1986, S. 203.

[88]Vgl. „Neue Freie Presse“, Wien, 19. 2. 1934 zit. n. Reppé 1993, S. 87f.; Standard.

[89]Vgl. Standard.

[90]Vgl. Reppé 1993, S. 8?.

[91]Vgl. Haller 2015.; Standard.

[92]Vgl. „Rotes Wien“, Inge Podbrecky, Falter Verlag, Wien 2003 zit. n. Seiß 2008, S. 71.

[93]Vgl. Seiß 2008, S. 71f.

[94]Vgl. Seiß 2008, S. 72.

[95]Vgl. Seiß 2008, ?.

[96]Vgl. Seiß 2008, S. 73f.

[97]Vgl. David Ellensohn zit. n. Seiß 2008, S. 80.


Zwischen der Rue Fleurus und der Rue l‘Odéon

Der Salon Gertrude Steins 

 „All diese Amerikaner kommen nach Paris, um Bilder zu malen, und natürlich können sie das nicht daheim in Amerika, oder um zu schreiben, auch das können sie nicht daheim, sie können nur Zahnärzte werden daheim.“ (Gertrude Stein, zit. n. Georg Stefan Troller, Dichter und Bohemiens, S.106)



Auch wenn man durchaus in Frage stellen könnte, ob es sich bei Gertrude Stein wirklich um die bedeutendste aller Saloninhaberinnen zu jener Zeit in Paris handelt, so ist sie doch die Einzige von ihnen, die in folgendem Kapitel behandelt wird, denn auch wenn sie vielleicht eine etwas verfälschte Selbstwahrnehmung ihre Bedeutung und Position betreffend hat, so ist sie doch diejenige, in deren Salon sich so gut wie alle männlichen amerikanischen Schriftsteller, die Paris zu ihrer neuen Heimat wählen, einfinden. Sie empfängt genau diejenigen, die sie mit dem abschätzend gemeinten Ausdruck „verlorene Generation“ betitelt. In ihrem Salon trifft man auf Hemingway, Fitzgerald, Passos, Elliot, Anderson und viele mehr. (vgl. Vincent Bouvet, Gérard Durozoi, Paris 1919-1939, S.344)



Als besonders legendär gelten die Samstage, an denen alle Jungliteraten amerikanischer Abstammung in Steins Salon strömen, wenn es ihnen erlaubt ist. (vgl. Georg Stefan Troller, Dichter und Bohemiens, S.101) Dort befinden sich dicht aneinander gehängt an den Wänden des Appartements Gemälde berühmter Künstler neben völlig neuartigen Werken junger experimentierfreudiger Maler. Stein ist nicht nur Beraterin und Unterstützung vieler ihrer Besucher, sie befindet sich auch im Besitz einer der imposantesten Kunstsammlungen in Paris. (vgl. Michaela Karl, „Wir brechen die 10 Gebote und uns selbst den Hals.“, S.131)



1903 reisen die Geschwister Leo und Gertrude Stein von Amerika nach Paris. Ihrem Bruder verdankt Stein auch ihre ersten Kontakte zu jungen Künstlern und Literaten. Sie eröffnen gemeinsam ihren Salon, aber ihre Ansichten, vor allem Kunst betreffend, sind so konträr, dass sich eine gemeinsame Führung dessen als unmöglich herausstellt. (vgl. Georg Stefan Troller, Dichter und Bohemiens, S.101) Doch Stein findet eine Begleiterin, die ihr bis zu ihrem Tod treu bleibt und sich stets zu Gunsten Steins im Hintergrund hält. Es ist ihre Lebensgefährtin Alice B. Toklas, welche ihr stets zur Seite steht und mit ihrer offenen liebevollen Art zu der Beliebtheit des Salons, auch bei den, von Gertrude eher weniger geschätzten Ehefrauen der empfangenen Künstler und Schriftsteller, beiträgt. Toklas hat die Qualitäten einer perfekten Hausfrau, die leidenschaftlich gerne kocht und Besucher umsorgt und ganz nebenbei ist sie eine wunderbare Gesprächspartnerin, da sie intelligent und warmherzig ist. (vgl. Ernest Hemingway, Paris – Ein Fest fürs Leben, S.19 f.) Sie selbst ist sich ihrer Bedeutung für die Beliebtheit des Salons zeitlebens nie bewusst. So sagt sie rückblickend auf ihre gemeinsame Zeit mit Gertrude Stein, viele Jahre später, kurz vor ihrem Tod, in einem Interview: „Ich war nur Gertrudes Schatten. Ich bin nur Erinnerung an sie.“ (zit. n. Georg Stefan Troller, Dichter und Bohemiens, S.103)

Doch auch die Ausstrahlung Gertrude Steins, die der Inbegriff der, nach dem Krieg sich emanzipierenden, modernen Frau ist, beeindruckt und wirkt anziehend auf ihre Anhänger, zumindest anfangs. (vgl., Vincent Bouvet, Gérard Durozoi. Paris 1919-1939, S.400 und Ernest Hemingway, Paris – Ein Fest fürs Leben, S.24) So wird sie von John Glasco in dem Roman „Die verrückten Jahre“ mit folgenden bewundernden Worten beschrieben: „Gertrude Stein strahlte eine bemerkenswerte Energie aus, was möglicherweise an der Verehrung lag, die ihr allseits zugeführt wurde.“ (zit. n. Michaela Karl, „Wir brechen die 10 Gebote und uns selbst den Hals.“, S.131) Auch sie wird ihre engsten Freunde nach dem Ende der „goldenen Jahre“, oder sogar, wie zum Beispiel Hemingway, noch während dieser verlieren.

Zu der Blütezeit des Salons in der Rue de Fleurus, einer gemütliche Atelierwohnung, in der man immer Speis und Trank bekommt, kann man den interessanten Diskussionsrunden, an denen die bedeutendsten Jungschriftsteller teilnehmen, beiwohnen. Die Tür steht für so gut wie jeden offen, nur regelmäßige Besuche erfordern eine Einladung. Für besonders enge Freunde und treue Anhänger Steins gilt sogar die ehrende Regel, dass sie, wann immer sie wollen, kommen können. (vgl. Ernest Hemingway, Paris – Ein Fest fürs Leben, S.22 und S.130)



Gertrude Stein ist sich ihrer Rolle und ihrer Position in der Pariser Avantgarde, die sie zwar nur wenige Jahre, doch intensiv und mit einer hohen Anzahl an Bewunderern genießt, durchaus bewusst, wenn nicht sogar in einem zu hohen Maße. Mit der Zeit erkennen nicht nur ihre Gegner, die ihr von jeher skeptisch gegenüber stehen, sondern auch ein Teil ihrer einst untergebenen Gefolgschaft, dass sie ein vielleicht sogar zu hohes Selbstbild hat. Sie sieht ihre Relevanz für jenes Zeitalter in den Augen mancher etwas verfälscht. So schreibt der Autor des Buches „Dichter und Bohemiens“: „War Natalie Barneys Salon auf Franzosen spezialisiert, so Gertrude auf Ausländer… und auf sich selber.“ (Georg Stefan Troller, Dichter und Bohemiens, S.103) Und Sylvia Beach meint, dass Steins Abneigung gegen den Schriftsteller Ezra Pound, der in den Augen der Buchhändlerin den Anfang der Moderne in Paris setzt, in dem Konkurrenzdenken der Salondame begründet ist: „Das war der Anfang von allem – obwohl Miss Stein, die Ezra nicht mochte, das immer ableugnete. Sie sah sich ja selbst als die Quelle der Modernität.“ (vgl. zit. n. ebd. S.107) Und Natalie Clifford Barney, Steins einzige erstzunehmende Konkurrentin, zitiert ihre Rivalin viele Jahre später in einem Interview: „Einmal erzählte sie mir, dass sich zuerst Bruder Leo für das Familiengenie gehalten hatte. Aber – und nun wortwörtlich: `Wie wir wissen, war es ich selber.´ Und warum? `Einstein war eben der kreative philosophische Geist des Jahrhunderts, und ich war der kreative literarische Geist des Jahrhunderts.´“ (zit. n. ebd. S.103)



Doch gerade Steins eigene schriftstellerische Karriere, so viel ihre Worte auch für die Jungautoren jener Zeit bedeuten, scheint nie nach ihren Erwartungen zu verlaufen. Lange Zeit erzielt sie mit keinem ihrer Texte den gewünschten Erfolg. Barney begründet dies in selbigem Interview so: „ Ich bezweifle, dass sie beim Schrieben auch nur einen Moment an ihre Leser gedacht hat.“ (zit. n. ebd. S.103) Erst die „Autobiographie von Alice B. Toklas“, ein Werk, das kaum noch Steins schriftstellerischen Experimenten ähnelt, die sie früher besonders in lyrischen Texten, orientiert an neuen Strömungen, wie dem Kubismus, veröffentlichte, wird erfolgreich und begeistert eine große Leserschaft. (vgl. ebd. S.103)

Die Buchhandlung Shakespeare & Co.



Genauso wie Gertrude Stein gehört Sylvia Beach zu der Gruppe an Amerikanerinnen, die offen zu ihrer sexuell differenten Orientierung stehen und sich in Paris mehr Toleranz und mehr Freiheiten erhoffen. Ihre Lebensgefährtin heißt Adrienne Monnier, Inhaberin eines bekannten und beliebten Buchladens. (vgl. Vincent Bouvet, Gérard Durozoi, Paris 1919-1939, ebd. S.401) Sie ist es auch, die der jungen Sylvia Beach den Vorschlag macht, ein eigenes Geschäft zu eröffnen und so befindet sich in der Rue de l’Odéon ab 1921 das legendäre Buchgeschäft „Shakespeare & Co.“, ein wunderbarer Ort voller Bücher der großen Literaten, wie auch jene der jungen Rebellen, die von vielen anderen noch längst nicht als ernstzunehmende Autoren respektiert werden. (vgl. ebd. S.343)

Als Treffpunkt der kreativen Elite der „goldenen Zwanziger“ in Paris steht die kleine Buchhandlung Steins Salon um nichts nach. Hier trifft man auf all die amerikanischen Schriftsteller. Doch nicht nur die unglaubliche Auswahl an Büchern, die man sich sogar ausleihen darf und Stunden damit verbringen kann, in ihnen ungestört zu schmökern, zieht so eine große Kundschaft an. Beach gilt als offen und unkompliziert. Sie sieht stets das Positive in ihren Mitmenschen. So heißt es über Beach: „Sie befruchtete Schriftsteller wie eine Biene.“ (zit. n. Georg Stefan Troller, Dichter und Bohemiens, S.104) oder  „Sie gab immer mehr, als sie zurückforderte.“ (zit. n. ebd.) Und auch, wenn es manche als Naivität bezeichnen, dass Sylvia Beach mit jedem gut auskommt, egal wie kompliziert oder eigenwillig diese Person scheinen mag, und Menschen, die eine solche Wirkung haben in Künstlerkreisen nicht selten anzutreffen sind, so zerstreitet sie sich im Gegensatz zu Stein mit so gut wie keinem, auch als die Zeiten nicht mehr so „golden“ scheinen. (vgl. Laure Murat, Paris-Stadt der Dichter, S.84)

So sagt die Buchhändlerin, einige Jahre nach dem Börsenkrach und der darauf folgenden Zerstreuung der Pariser Bohemiens, über den, zu diesem Zeitpunkt als verbittert und grob geltenden, Ernest Hemingway: „Hemingway war unwiderstehlich. Kompetent in allem was er tat.“ Und sie fügt dann noch hinzu: „Er hatte vor keinem Menschen Angst auf der Welt, wirklich vor keinem, außer vor Gertrude Stein.“ (zit. n. Georg Stefan Troller, Dichter und Bohemiens, S.105) Sie bewundert genau das an ihm, was andere wie Toklas oder Stein, nach Beendung der innigen Freundschaft zu dem Autor, verurteilen: Seine Männlichkeit, die von anderen als bloße Show gedeutet wird.

Genauso unbeeindruckt ist sie von denen, die Fitzgerald im Nachhinein, als einen unglücklichen Lebemann, der zu viel trank, sozusagen ein „Opfer seiner Zeit“ darstellen:  „Wir mochten ihn sehr, mit seinem fabelhaften Aussehen, seiner wilden Unbekümmertheit und der Faszination eines gefallenen Engels.“ (zit. n. ebd. S.107) Genau diese Gutmütigkeit ermöglicht ihr auch die Zusammenarbeit mit dem anspruchsvollen James Joyce und so veröffentlicht sie seinen Skandalroman „Ulysses“ trotz des beschwerlichen Weges, der dieser vorangeht. Nur über einen Schriftsteller war zu finden, dass er niemals in Sylvias großen Freundeskreis aufgenommen wurde. Es ist Henry Miller, der weder in Steins Salon noch in „Shakespeare & Co.“ Eintritt findet. (vgl. Laure Murat, Paris-Stadt der Dichter, S.119f.)

Das Ende zweier Künstlertreffs

Der Börsenkrach 1929, Gipfel der Wirtschaftskrise, und die große Depression setzen der großen Zeit des Salons Steins und der Buchhandlung Beachs ein  plötzliches Ende. (vgl. Georg Stefan Troller, Dichter und Bohemiens, S.105) Während die Saloninhaberin, genauso wie ihre Konkurrentin Barney, nach dem zweiten Weltkrieg vergebens versucht ein zweites Mal ihr Appartement in einen Hotspot für alle modernen Künstler zu verwandeln, bleiben die Türen zu „Shakespeare & Co.“ für immer verschlossen. (vgl. ebd. S.79)

„Am Ende wurden alle – nicht ganz alle – wieder Freunde, um nicht spießig oder selbstgerecht zu erscheinen. Auch ich machte mit. Doch so richtig konnte ich mich nicht mehr mit ihr anfreunden, weder im Herzen noch im Kopf.“(Ernest Hemingway über Gertrude Stein, vgl. Ernest Hemingway, Paris – Ein Fest fürs Leben, S. 106)



Dass Steins ehemaligen Anhänger keine Interesse mehr haben ihren Samstagssalon aufzusuchen, liegt nicht nur in der Tatsache begründet, dass sie über die ganze Welt verstreut sind, sondern auch an der Beziehung zu der einstigen Mäzenin, die in vielen Fällen in die Brüche geht. Hemingway, der für einige Jahre vielleicht ihr treuster Anhänger ist, kritisiert sie rückblickend in „Paris-Ein Fest fürs Leben“ heftig, auch wenn er wohlwollend über ihre ersten gemeinsamen Jahre spricht, in denen sie viel Zeit miteinander verbringen. Er steht ihrer Selbstzentriertheit kritisch gegenüber:

 „Ich kann mich nicht erinnern, dass Gertrude Stein in den drei oder vier Jahren, die wir gut miteinander befreundet waren, auch nur ein einziges Mal etwas Gutes von irgendeinem Schriftsteller gesagt hätte, der nicht wohlwollend über ihre Arbeit geschrieben oder sonst etwas getan hatte, um ihre Karriere zu fördern, […]“ (Hemingway, Ernest, Paris – Ein Fest fürs Leben, S. 63).



So erzählt er auch, dass Stein in einem Gespräch sehr wütend wird, weil Hemingway jemanden kritisiert, welcher Stein zugetan ist:  „[…] reagierte Miss Stein sehr böse. Ich hatte jemanden angegriffen, der zu ihrem Gefolge gehörte.“ (ebd. S.65) Über ihren Hang zu Klatsch und Tratsch äußert er sich ebenfalls abfällig: „Miss Stein wollte über seine Geschichten nicht reden, immer nur über ihn als Mensch.“ (ebd. S.64) Auch der Autor Eugène Jolas kritisiert Stein heftig und in seiner Zeitschrift, die sich den verschiedensten Schriftstellern ohne Rücksicht auf deren Herkunft öffnet, erscheint 1935 als Reaktion auf die „Autobiografie von Alice B. Toklas“ das „Testimony against Gertrude Stein“. Eugène Jolas unterstellt ihr in diesem, dass „sie nicht verstanden hat, was wirklich um sie herum geschieht“(zit. n. Vincent Bouvet, Gérard Durozoi, Paris 1919-1939, S.344). Ihren Versuch nun eine neue Gefolgschaft zu gewinnen fördert ihr Image in keiner Weise. Hemingway dazu in „Paris –Ein Fest fürs Leben: „Es war traurig, zu sehen, wie neue belanglose Bilder zu den Meisterwerken gehängt wurden, aber das machte nun keinen Unterschied mehr. Nicht für mich jedenfalls. Sie zerstritt sich mit fast allen von uns, die wir sie gern hatten […]“ (Hemingway, Ernest, Paris – Ein Fest fürs Leben, S. 106)

Sylvia Beach weigert sich nach dem Krieg an deutsche Soldaten Bücher zu verkaufen und als einer von diesen nicht locker lässt und ankündigt wieder zu kommen und sich das gewünschte Exemplar zu holen, räumt sie ihr Geschäft. Ihren engen Freund Hemingway sieht sie jedoch noch vor diesem Ereignis wieder. Er gilt zwar bereits als jähzornig und zu Wutausbrüchen tendierend, doch sie ist einfühlsam und hat sich nie von seiner speziellen Persönlichkeit abschrecken lassen. Sie hat ihn stets mit dem Gefühl für den richtigen Umgang behandelt und obwohl er zu den wenigsten seiner damaligen Bekanntschaften noch eine gute Beziehung hat, ist das Wiedersehen der beiden von vertrauter Herzlichkeit. (vgl. Laure Murat, Paris-Stadt der Dichter, S.86)

Es ist der Tag an dem Paris befreit wird und von der Straße durch die Fenster der Wohnung Sylvia Beachs und ihrer Lebensgefährtin noch der Lärm von Schüssen dringt. Sie liegen am Fußboden, als sie von draußen Stimmen hören, die mindestens so erfreut wie erstaunt bekannt geben, Hemingway sei da. Daraufhin kommt es zu einem freudigen Wiedersehen der beiden engen Freunde. Man erzählt sich, Hemingway befreit die Buchhändlerin auf ihr Bitten noch ein paar bedrohlich wirkende Soldaten und macht sich dann auf mit ein paar Freunden „wie er stolz verkündet, den Weinkeller des Ritz zu befreien.“ (Georg Stefan Troller, Dichter und Bohemiens, S.113)



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